Wirtschaftsethnologie (7): Kapitalismus und Tiv-Ökonomie - ein Resumee

Traditionelle und kapitalistische Wirtschaft – etwas Gegensätzliches?

Es sollte deutlich geworden sein, dass die Grenzlinien zwischen traditioneller und kapitalistischer Wirtschaft nicht eindeutig zu ziehen sind. Mir scheint, der bestimmende Faktor über die Art des Wirtschaftssystem die Grösse der Bevölkerung, ihr Aktionsradius und die Machtverhältnisse sind. Diese Faktoren sind wieder abhängig von Naturverhältnissen und Geschichte.

Ein Grossteil der "traditionellen Gesellschaften" sind wenig spezialisierte Gesellschaften ohne viel Arbeitsteilung. Dies unterscheidet sie merklich von uns. Und die Oekonomie hat einen engeren Aktionsradius. Es sind deshalb Face-to-Face-Oekonomien, wo viel Wert auf "das Soziale" gelegt wird. Man hat oder hatte immer ein persönliches Verhältnis zu seinem "Handelspartner". Preise standen selten fest und wurden ausgehandelt. Sie unterschieden sich auch je nachdem wie gut man den Käufer kannte und ob man mit ihm verwandt war. Profitmaximierung war in der Regel nicht das Ziel – höchstens Fremden gegenüber.

Ihre Supermärkte sind die Märkte (Name!) und deren Organisation war der sozialen Ordnung untergeordnet. Oft waren Markttage mit Festen und besonderen Ereignissen, auch religiöser Natur, verbunden – auf jeden Fall war ein Markt immer ein groses Ereignis, vielleicht so ähnlich wie bei uns früher der Jahrmarkt. Als ich vor zehn Jahren einen ländlichen Markt in Togo besuchte, fiel mir auf, dass eigentlich niemand hin ging, um einzukaufen, sondern eher um Leute zu treffen und zu schwätzen.

Viele Gesellschaften verfügten zwar über Formen von Geld, z.B. Kaurimuscheln in Westafrika oder Kakaobohnen bei den Azteken. Diese hatten jedoch nicht die Funktion von unserem Geld. Es war kein "general purpose money", sondern "special purpose money", d.h. in seiner Einsetzbarkeit sehr limitiert.

Die meisten Gesellschaften haben Regeln darüber, was Gegenstand von Handel mit und ohne Geld sein kann. Kauf und Verkauf von Arbeitskraft oder Land ist in den meisten traditionellen Gesellschaften undenkbar. Auch bei uns kann man nicht alles mit Geld kaufen, wenn auch viel mehr als in "traditionellen Gesellschaften". Ein viel zitiertes Beispiel stammt Paul Bohannan, der den Uebergang der Tiv-Wirtschaft in Nigeria von einer Tausch- zu einer Geldökonomie beschreibt.


Einführung von Geld bei den Tiv in Nigeria

Die Tiv sind traditionell Landwirte, sie züchteten lange Zeit Hirse, Früchte und Gemüse hauptsächlich für ihren eigenen Konsum. Ueberschuss wurde redistributiert (verteilt) oder auf dem Markt verkauft. Austausch funktionierte auf dreierlei Weise, je nachdem in welcher Sphäre die Ware (oder der Dienst) eingeteilt ist.
  • Waren der Nahrungsmittel-Sphäre werden gegeneinander auf dem Markt ausgetauscht. Dazu gehören Getreideprodukte, Früchte, Gemüse, Kräuter, lebende Hühner, Küchengeräte.


  • Waren der Prestigesphäre werden mit kostbaren Messingstangen bezahlt. Dazu gehören wertvoller weisser Stoff, Sklaven (!), Medikamente und magische Hilfsmittel sowie in früherer Zeit auch politische Aemter.


  • Dann gibt es noch die Frauensphäre, die neben Frauen alle anderen Personen ausser Sklaven (!) beinhaltet. Das ist die allerhöchste Sphäre. Menschen können nur mit anderen Menschen "bezahlt" werden, eine Frau nur mit einer Frau. Alle Heiraten waren "Tauschheiraten". Wenn meine Familie eine Frau von Ihrer Familie bekommt, dann muss meine Familie Ihrer Familie irgendwann eine Frau "zurückgeben”. Das muss nicht sofort geschehen und kann eine oder mehrere Generationen warten.
Innerhalb jeder Sphäre ist Handel moralisch unbedenklich. Etwas anderes ist der Fall beim Handel zwischen den einzelnen Sphären. Da es kein universelles Mittel zum Messen des Wertes bei den Tiv gibt, ist es unklar, wie "bezahlt" werden soll. Es wird auch als dumm und unmoralisch angesehen, Prestigegegenstände wie Messingstangen gegen noch so viele Getreidesäcke einzutauschen und ist nur in Notsituationen akzeptiert.

So funktionierte die Tiv-Oekonomie bis zum zweiten Weltkrieg. Die Kolonisierung des Inneren Nigerias führte zu Veränderungen. Frieden wurde hergestellt, dies ermöglichte, in Gegenden Handel zu treiben, wo es früher gefährlich war. Es gab mehr Waren, Handel wurde wichtiger. Man produzierte nicht mehr Nahrungsmittel für den eigenen Verbrauch, sondern für den Markt. Viele Leute spezialisierten sich auf Sesamsamen, die sie gegen Geld verkauften, wofür sie Essen und andere Waren kauften.

Die Einführung des Geldes machte die Aufrechterhaltung des Sphärensystems unmöglich. Geld drängt sich überall hinein. Im Gegensatz zu Messingstangen konnte es aufgeteilt werden. Man konnte durch Arbeit Geld bekommen.

Die Tiv-Wirtschaft veränderte sich völlig. Man produzierte nicht mehr Nahrungsmittel für den eigenen Verbrauch, sondern für den Markt. Beim Markttreiben stand plötzlich das Geldverdienen im Vordergrund. Nicht nur Medizin, Rituale und Kühe, sogar den Brautpreis begann man mit Geld zu bezahlen. Für viele bedeutete das eine Abwertung von Frauen, weil Frauen nun zur Ware wurden genauso wie Yams oder Hühner.

Die Prinzipien des Marktes über Angebot und Nachfrage erstatteten Regeln über Richtig und Falsch. Die Wirtschaft der Tiv verlor ihre moralischen Aspekte.


Die Bedeutung von Geld

Die Einführung von Geld bei den Tiv hatte dramtische Folgen für ihre Gesellschaft. Ähnliches hören wir von Indianern in Amerika und den Inuit in der Arktis.

Georg Henriksen hat den Übergang zum Geld bei Inuit in Kanada studiert. Er schreibt, dass die Tauschrituale und Regeln der Inuit in Kanada keinen Sinn mehr machten, als sie sesshaft wurden und Teil der Geldwirtschaft wurden. Er hat beobachtet, dass die Menschen dort hauptsächlich individuelle Karrieren verfolgen und so wenig wie möglich abgeben. Die Einführung von Geld führte da sogar zu einer Schichtung der Gesellschaft. Sie basierte darauf, wieviel der einzelne an Besitz angehäuft hat - und nicht wie früher wie viel er weggegeben hatte.

Was erzählen diese Beispiele vom Wesen des Geldes?

Geld hat auch Eigenschaften, die Profitdenken fördern. Denn es ist aufteilbar und lässt sich unbegrenzt lagern. Man kann mit dem Einkaufen/Investieren warten, auf eine günstige Gelegenheit spekulieren. Man kann das Geld für sich arbeiten lassen (Zinsen / Devisenspekulation).

Geld hatte schon immer etwas Anrüchiges an sich. Ob Aristoteles, Jesus oder der Profet Mohammed warnten vor den schädlichen Folgen durch den Umgang mit Geld, von der Sucht nach immer mehr Geld und vom Horten des Geldes. Das Allerschlimmste ist das Zinsnehmen. Geld dafür zu verlangen, wenn man anderen Geld leiht, gilt als unmoralisch und wurde deshalb von allen grossen Religionsgründern untersagt. Im Buch Moses steht: „Du sollst dem anderen Menschen dein Geld nicht auf Zins leihen.“Das Verbot galt bis ins späte Mittelalter.

Ohne Geld lässt sich nicht leben, also ist ein Grossteil unserer Energie darauf ausgerichtet, dies zu erwerben. Zeit ist Geld, sagt man. Und deshalb werden Tätigkeiten danach bewertet ob sie Geld einbrigen oder nicht. Ob diese Tätigkeit der Gesellschaft dient oder nicht, spielt keine grosse Rolle. Belohnt werden Aktivitäten, die einen Profit abwerfen.

Handel zeichnet sich ursprünglich dadurch aus, dass man gibt, was man übrig hat und erwirbt, was man braucht. Der Austausch ohne Geld oder Ware gegen Ware klappt so lange gut wie die Gesellschaft wenig spezialisiert ist. Er ist bei uns im informellen Rahmen üblich. Helfe ich Kollegen beim Umzug verlange ich kein Geld, freue mich aber ueber eine Essenseinladung oder ein paar Bier. In einer Forschung über ein Dorf in Nordnorwegen wird die entsetzte Reaktion beschrieben, als eine Zugezogene ihre Nachbarin fragt, ob sie von ihr Multebeeren abkaufen könnte. Nein, so was tut man nun wirklich nicht! Sie bekommt gerne ein Glas, aber gegen Geld, nein!!

Aber wie soll ich einen teuren Flug in die USA bezahlen, gebe es nicht Geld? Geld erleichtert den Handel in komplexen Gesellschaften. Wichtig: Es macht Waren vergleichbar. Wie Ethnologe Thomas Hylland Eriksen ironisch anmerkt, könne man durch die Existenz von Geld sagen, eine Novellensammlung von Kafka sei soviel Wert wie drei Schachteln Zigaretten. Ich bezahle mit Arbeit, die zuvor geleistet habe. Gearbeitet habe ich nicht für die Fluglinie oder das Reisebüro, sondern für eine Zeitung, die nichts mit der Fluglinie zu tun hat. Die Geldscheine sind so viel Wert wie meine Arbeit. Unser Wirtschaftssystem basiert auf dem Kauf und Verkauf von Arbeitskraft.


Aufblühen der Tausch- und Schenkkultur

Die Bedeutung von Geld und des Marktprinzipes in unserer Geld nicht grösser machen als sie ist. Wie in der Einleitung erwähnt, nehmen Formen des nicht-monetären Austausches wieder zu - durch die vielen Tauschringe und besonders durch das Internet. Viele Dienste sind ohne Geld erhältlich – gegen den Tausch von Werbung: Man kann gratis Zeitungen aus aller Welt lesen, Webseiten erstellen, Emails verschicken. Imponierend viele Leute lassen uns gratis ihre selbst erstellten Programme herunterladen. Wenn wir Informationen suchen, sind wir froh über die vielen Internetseiten von Privatpersonen, Instituten und Organisationen, die wir gratis nutzen dürfen. Oder man denke an die vielen Foren, in denen man sich zu allen möglichen Themen von fremden Leuten beraten und helfen lassen kann - so viel Hilfsbereitschaft und Gegenseitigkeit ist immer wieder erstaunlich.

Im Internet ist wie bei den Inuit in der Arktis oder den Trobriandern im Pazifik nicht die Währung Geld im Spiel, sondern die Währung Ansehen und Respekt. Und es funktioniert auf Gegenleistung: Jeder trägt seinen Teil zur Weiterentwicklung des Internets bei.

Es ist auffallend, wie oft der Begriff “Gift Economy” (Geschenkökonomie) in den letzten Jahren im Zusammenhang mit dem Internet ins Spiel gebracht wurde, einen Begriff, der ja aus der Ethnologie stammt. Und in mehreren Artikeln vergleichen Hacker und Programmierer ihre Dienste mit der Bedeutung von Potlatches.

Abgesehen davon gibt es immer genug Leute und Betriebe, denen Gewinnmaximierung nicht das oberste Ziel ist. Banken gibt es, für die die Idee, "Geld als sinnvolles Medium zu nutzen, um soziale Prozesse in Gang zu setzen" wichtiger ist als Profit. Man denke an die Passion von Künstlern, die selbst Armut in Kauf nehmen, um ihrer Berufung zu folgen, oder an Wissenschaftler, die jahrelang forschen nur wegen der Schönheit des Entdeckens selbst und nicht wegen des Geldes. Und genug Leute engagieren sich ehrenamtlich für eine gute Sache.


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Teil 1: Einführung

Teil 2: Tauschformen

Teil 3: Kula auf Trobriand

Teil 4: Potlatch bei den Kwiakiutl in NW-Amerika

Teil 5: Moka in Papua Neu-Guinea

Teil 6: Pig and Cattle-Complex bei den Nuern im Sudan

Teil 7: Kapitalismus und Tiv-Oekonomie in Nigeria, Resumee

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:MEHR IM NETZ ZUM THEMA:

Kakao als Zahlungsmittel bei den Azteken ("Schokolade und Kakao" - private Seite)

Markets in Africa (teacherlink)

The Story of Money (kurze Geldgeschichte - New Internationalist) und Geld und Tausch im Mittelalter (Money-Museum Zürich)

Geschenkökonomie im Internet (Magisterarbeit von Maximilian Vogel, FU Berlin) / siehe auch The High-Tech Gift Culture (Internetgeschichte, Linux) / Hacking and Potlatch (Forbes) / Rennaissance des Tauschhandels: Das Netz lässt Barter-Geschäfte boomen (primavista, 27.9.2000)

Créditos statt Pesos in Argentinien - Tauschwirtschaft als Rettungsring einer verarmenden Gesellschaft (Mirco Lomoth in tsantsa 1/2003, Universität Leipzig)

Ethnologe Nigel Barley über Reichtum, Armut und die Tiv (NZZ-Folio 5/2002)

Grameen - Bank für die Armen in Bangladesh / siehe auch Wir-Bank Schweiz und GLS-Gemeinschaftsbank Deutschland

Zurück zu Aristoteles? Wirtschaft und Philosophie (Vortrag von Prof. Dr. Malte Faber, Uni Heidelberg)



WEITERFÜHRENDE SEITEN WIRTSCHAFTSETHNOLOGIE

An Unfinished Intellectual History of Anthropological Economics (Mike Shupp, Department of Anthropology, California State University, Northridge)

Social Exchange Theory (Lecture by William Davis, Uni. of California, Davis)

The Question of the Gift: Essays Across Disciplines Edited by Mark Osteen (Society for Critical Exchange)

Leitfaden Wirtschaftsethnologie (Uni Bern, pdf-Dokument)

Rennrattes Mitschriftensammlung zur Wirtschaftsethnologie (Uni Wien)



MEHR ZUM THEMA GELD UND ALTERNATIVEN

The History of Money (British Museum)

Neue Wege des Wirtschaftens (Bedeutung des Geldes, alternative Geldwirtschaften, Tauschwirtschaften, Alternativbanken, Regionalwährungen - Robert Musil, Uni Wien) / siehe auch Zusammenfassung des Buches von Bernard Lietaer "Geld der Zukunft" - das Buch kann man auch online lesen (futuremoney.de)

Chiemgauer-Regionalgeld siehe auch Bremer Roland

GLS Gemeinschaftsbank / Ökobank und Islamic Bank of Britain sind nicht profitorientierte Banken

Tauschringe und Tauschen heute - viele Artikel (tauschring.de)

Tauschgruppen weltweit - geltlose Alternativen (lets-linkup.com)

Bertrand Russell: In Praise Of Idleness (I think that there is far too much work done in the world, that immense harm is caused by the belief that work is virtuous)

Gift Economies - Alternatives to Corporate Globalization? (siehe Abschnitt ueber economics, Indymedia Philadelphia)

Geldreform.de (riesige Textsammlung zum Thema Geld, Tausch, Zins, Kapitalismus und Gerechtigkeit)


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