Wirtschaftsethnologie (6): Herskovits und Evans-Pritchard

Pig and Cattle Complex

Was manche Ethnologen früher verwundert hatte: Viele Gesellschaften schuften, um einen Austausch von Gütern am Leben zu halten, die sie gar nicht unbedingt brauchten. Wie deutlich geworden sein sollte, waren mit dem Tausch oft politische Zwecke verbunden. Oft genug war der Tausch wirtschaftlich wichtig, weil er für gute nachbarschaftliche Beziehungen sorgte. Er bildete oft den Rahmen für gewöhnlichen Handel. Besonders gross war die Verwunderung gegenüber der Bedeutung von Schweinen bei den Melpa in Papua Neu Guinea - und von Vieh bei den Nuern im Sudan.

Frühere Ethnologen meinten, diese Gesellschaften würden nicht rationell wirtschaften, da sie die Tiere nicht essen. Die grosse Viehherde verursache Schäden in der Landschaft (Ueberweidung).

Herskovits führte den Begriff des "Cattle Complexes" ein. Damit wollte er ausdrücken, dass Rinder mehr für soziale und rituelle Zwecke gehalten werden als zur Subsistenz/Ernährung.

Aehnliches stellte man bei den Melpa fest. Schweine sind bei den Melpa Haustiere und spielen in Zeremonien eine Rolle und sind die wichtigsten Gaben beim Moka. Anscheinend lassen Frauen die Schweine an ihrer Brust saugen. Das Halten der Tiere sei Verschwendung, warf man ihnen vor.

Die Nuer sind Hirten und wuerden nur widerwillig Landwirtschaft, treiben, schrieb Evans-Pritchard anno 1940. Die Rinder sind ihr ein und alles. Die Braut wird mit Rindern bezahlt, der Zeitpunkt der Heirat wird dem Leben der Tiere angepasst, Männer werden mit Namen genannt, die auf die Farbe oder Form ihres Lieblingsochsen hinspielt, das Vieh spielt eine wichtige Rolle im Ritualleben. Ein Mann stellt Kontakt zu Geistern über die Rinder her.

Und immer reden Nuer mit und über ihre Tiere - etwas, was Evans-Pritchards schnell zu viel wurde. Nuer waschen Hand und Gesicht im Urin der Tiere, trinken ihre Milch und ihr Blut und haben ein umfangreiches Vokabular, um sie zu beschreiben. Eine grosse Herde mit fetten Rindern ist das Stolz eines jeden Hirten.

Doch wie so oft in der Geschichte der Ethnologie waren die Forscher unfähig, ihnen fremde Verhältnisse zu verstehen. Ich kann nicht auf die Diskussionen eingehen, in denen Ethnologen auch bei anderen Gesellschaften die Kompetenz der Einheimischen in der Wirtschaftsführung anzweifelten (u.a. Buschmänner, Inuit).

Wie spätere Forschung zeigte, wurden sowohl Schweine und Rinder öfter gegessen als angenommen. Das lag an der Häufigkeit ritueller und zeremonieller Anlässe, wo man diese Tiere verspeisen darf. Rinder und Schweine, die einen natürlichen Tod gestorben sind, darf man auch essen. Ausserdem erfüllen grosse Herden eine wichtige wirtschaftliche Funktion. Wie Kinderreichtum stellen sie eine Sicherheit dar gegen Verlust durch Epedemien oder Hunger.

Diese angeblich verschwenderische Wirtschaftsform ist also eine Strategie zu grösst möglicher Sicherung des Nahrungsmittelkonsums. Rinder sind für die Verwendung zum Fleischkonsum auch gar nicht so effizient wie Ziegen. Fleischverzehr ist eine einmalige "Nutzung" des Tieres, während die Milchproduktion - das Hauptziel der Hirten - nachhaltiger ist.

Die Rinder sind daher ein wichtiges Kapital. Kapital meint angehäufte Güter, die man gegen andere Waren oder Werte eintauschen kann. Mit ihnen kann man mehr Gewinn erwirtschaften als mit Landwirtschaft, da der zu bewirtschaftende Boden limitiert ist und nicht viele technische Hilfsmittel zur Verfügung stehen. Nomaden jedoch können leicht Ueberschuss in Vieh investieren. Andererseits beansprucht Viehhaltung, damit sie sich lohnt, grössere Landflächen als die Landwirtschaft - etwas, das heute für viele Hirtengesellschaften ein Problem darstellt.

Der Begriff des Cattle- oder Pig-Complexes wird von heutigen Ethnologen wegen seiner negativen Konnotation nur mit Einschränkungen benutzt. Sinnvoller mag sein, den Begriff "money complex" auf unsere eigene Gesellschaft anzuwenden. Man kann nicht unbedingt sagen, wir wuerden schuften, nur um Waren zu produzieren, die wir wirklich brauchen.



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Lorenz Khazaleh, Januar 2001, November 2002, Ende Februar 2004.

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Teil 3: Kula auf Trobriand

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Teil 6: Pig and Cattle-Complex bei den Nuern im Sudan

Teil 7: Kapitalismus und Tiv-Oekonomie in Nigeria

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Cattle-Complex und Misere der Massai? (The East African)

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Auszug aus The Nuer of Southern Sudan (Evans-Pritchard) (University of Western Ontario)

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