Grönland ist das am isoliertesten gelegene Teil des Inuit-Gebietes. Helge Kleivan (1986) nennt folgende grönländische "Spezialitäten": extreme regionale Vielfalt, sehr lokal geprägte ökologische sowie klimatische Bedingungen (letztere wechselten zudem stark mit der Zeit!), die norwegisch-dänische Kolonialzeit, die Home Rule 1979 (Selbstbestimmung) und das Weiterbestehen der Identität der grönländischen Inuit (Fakten über Grönland).
Während der gesamten menschlichen Geschichte hat sich die Wirtschaft in Grönland auf das Meer konzentriert. Karibujagd im Landesinneren im Sommer war und ist immer noch für einige Gruppen eine wichtige Aktivität. Diese Meer-Orientierung unterscheidet die Grönländer von vielen kanadischen Inuit und jenen in Alaska. Die regionale Vielfalt ist ausserdem in Grönland grösser. In der subarktischen Zone an der Südwestküste wurde die Seehundjagd das ganze Jahr über vom Kanu aus betrieben. In der arktischen Zone weiter nördlich, im Westen und im Osten pflegten die Inuit verschiedene Eisjagd-Techniken - Transport- und Jagdarten waren je nach Jahreszeit verschieden. Bei den Polar Eskimos im Thule District ist das Meer neun bis zehn Monate zugefroren. Während vier Monaten ist wegen Dunkelheit das Jagen kaum möglich. Für heutige Planer ist die Unterscheidung zwischen eisfreien ("Die Fischereibezirke") und eisbedeckten Gebieten ("Die Jagdbezirke") die relevanteste in ihrer Arbeit. Die Modernisierung hat sich lange auf die milderen Gebiete an der südlichen Hälfte der Westküste konzentriert und führte zu einer Zentralisierung auf die vier grössten urbanen Zentren dieser Region.
Laut Kleivan entwickelte sich schon sehr bald ein kollektives grönländisches Selbstverständnis. Der Prozess des "nation building" soll bereits mit der Ankunft des dänischen Missionars Hans Egede in 1721 begonnen haben. An der Westküste ist die Selbstbezeichnung fuer Grönland ("Kalaaleq") im kolonialisierten Westen bereits 1760 aufgekommen - als Reaktion auf die Präsenz der dänischen Kolonialbeamten. Die Abgrenzung von den Dänen, so Kleivan, war jedoch nicht so stark. Mehr als sonst in der Inuit-Welt entwickelte sich eine "hybrid culture", ein gegenseitiges Sich-Beeinflussen.
Den grössten Einfluss auf die grönländische Kultur hat die Errichtung des Lehrerseminars in Godthåb im Jahr 1845 ausgeübt. Die Lehrer waren Katechisten und verbreiteten - auf Grönländisch wohlgemerkt - das Christentum, aber auch andere fü;r Dänemark typische Fächer wie Weltgeschichte, Zoologie und Geografie. Die Lehrer waren, so Kleivan, dafür verantwortlich, dass in Westgrönland eine homogene koloniale Kultur heranwuchs.
Die Kolonialmacht führte zwar Feuerwaffen ein, ein Grossteil tradioneller materieller Kultur blieb jedoch bis weit ins 20. Jahrhundert bestehen.
Nach und nach drangen die Dänen in entlegenere Gebiete ein. Ende des 18. Jahrhunderts war die gesamte Westküste unter dänischer Kolonialherrschaft. Mit der Zeit nahmen Eheschliessungen zwischen Dänen und Inuit zu. "Mischehen" sind ein gewöhnliches Phänomen. Doch in Grönland, so Kleivan, lösten diese Mischehen eine für das Inuitgebiet sonst seltene Schichtung der Gesellschaft aus. Es waren die Nachkommen dieser Mischehen, die später die grönländische Elite ("the great Greenlandic families") darstellen sollten. Die Söhne wurden ermuntert, sich für Jobs in der Kolonialadministration auszubilden. Sie spielten eine bedeutende Rolle in der Verbreitung dänischer Kultur.
Es dauerte erstaunlich lange, bis diese Veränderungen den Norden und den Osten erreichten. Kleivan schreibt, dass dies erst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert geschehen sei.
All diese Ereignisse führten zu einem nation building-Prozess. Die raschen Veränderungen aufgrund von Modernisierung beschleunigten die politische Mobilisierung der Grönländer, die zur Etablierung der Home Rule 1979 führten.
Polar Inuit
Die nördlichsten menschlichen Siedlungen der Welt befinden sich nicht in Nordnorwegen, sondern in Grönland. Die Polar-Inuit bilden die am nördlichsten lebende Bevölkerung der Welt - sie leben zwischen 75 und 79 Grad nördlicher Breite. Ihr Gebiet ist scharf von Westgrönland abgetrennt. Zwischen ihnen liegt die unbewohnte Melville Bay (Karte von Groenland). Das Klima ist arktisch mit durchschnittlichen Wintertemperaturen um -30 Grad und im Sommer um 5 Grad. Erst im Juli brechen Stürme das Eis für drei Monate auf (siehe Wetterbericht für Grönland). Die grösste Siedlung ist Qaanaaq mit 650 Einwohnern (Bilder von der Stadt).
Rolf Gilberg schildert die Kultur der Polar Inuit für drei verschiedene Zeiträume: 1850, 1900 und nach 1950.
Um 1850 herum war das Klima offenbar noch kälter als heute - auf jeden Fall kälter als die Jahrzehnte zuvor. Die Ringelrobben wanderten in den Süden, was wiederum einen Rückgang der Eisbärpopulation bewirkte - kurzum eine vermutlich besonders schwierige Zeit für die rund 200 Polar Inuit.
Im Sommer jagten sie Vögel und wohnten in Fellzelten. Im Herbst und Frühjahr gingen sie auf Jagd und mussten die gesamte Nahrung für die kommenden Monate beschaffen und lagern. Die Polar Inuit lebten zu der Zeit nicht in Iglus, sondern in Steinhäusern.
Im Jahr 1856 veränderte sich das Leben der Polar Inuit markant. In diesem Jahr bekamen sie Besuch von kanadischen Inuit (hauptsächlich Iglulik von der Baffin Bay). Sie liessen sich bei ihnen nieder und brachten neue Mythen und Lieder mit, bessere Techniken zum Bau von Iglus (mit niedriger Eingangspassage), Werkzeuge zum Fischen, die Kayak-Baukunst und die Technik, mit ihm zu jagen sowie Pfeil und Bogen, um Karibu und Ptramigan zu jagen. Letztere hatten die Polar Inuit als ungeeignet für menschlichen Verzehr gehalten. Die kanadischen Inuit übernahmen dafür den Schlittentyp der Polar Inuit, den sie als besser zum Fahren auf dem Meereseis geeignet empfanden als ihren eigenen.
Die Beschreibung der Lebensverhältnisse für die Zeit um und nach 1900 ist bedeutend ausführlicher. Es gibt mehr wissenschaftliche Quellen.
Man weiss von dieser Zeit, dass die Inuit regelmässig den Wohnort wechselten. In der Regel hatte man einen Winter- oder einen Sommerwohnsitz. Diese waren jedoch nicht fest. Es war eher die Ausnahme, dass man zwei oder mehr Winter am selben Ort siedelte. Der Sommerwohnsitz lag in der Regel im selben Gebiet, wo man den kommenden Winter verbringen wollte.
Dieser Nomadismus hatte ökonomische Ursachen. Er sollte eine möglichst effiziente Nutzung der Wildressourcen bezwecken. Wie gesagt, war das Iglu nur eine temporäre Unterkunft während der Jagd oder auf Reisen. Im Winter, d.h. von September bis Mai (!), lebten sie in Steinhäusern - jede Kernfamilie für sich. Oft waren die Haeuser mit Torf und getrocknetem Gras verkleidet. Innen wärmte die Tranlampe (s.u.) die Temperatur auf etwa 15 Grad. Die Temperatur variierte jedoch beträchtlich: auf dem Fussboden betrug sie um den Gefrierpunkt, auf Höhe der Schlafplattform 15 Grad und darüber bis zu 25 Grad. Im Mai zieht dann die Familie in ihr Fellzelt um.
Haupttransportmittel war der Schlitten. Um 1900 herum hatten die Inuit Zugang zu Holz durch die Dänen bekommen und bauten den Schlitten hauptsächlich daraus. Zuvor bestand er mehr aus Knochen als aus Holz. Die Form blieb jedoch gleich. Hautriemen wurden nach und nach durch Nägel ersetzt. In den drei Monaten, wo das Eis aufbricht, konnten sie das von den kanadischen Inuit eingeführte Kayak benutzen.
Die Polar Inuit ernährten sich durch Jagd, Fisch- und Vogelfang (Bilder): Bart- und Ringelrobbe, Walross, Narwal, Weisswal, Karibu, Fuchs, Hase, Eisbär, Moschusochsen). Wie andere Inuit, hatten sie Regeln zum Teilen ihrer Beute. Bevor sie in Läden Importgüter kaufen konnten, lebten sie ausschliesslich von Fleisch. Noch 1980 machte Fleisch ein Grossteil ihres Essens aus. Dies wurde oft als Mangeldiät beschrieben. Hugh Brody, von dem einige der spannendsten Buecher über Inuit stammen, widerlegt dies. Er schreibt, dass eine Ernährung aus Fleisch dem Körper mit allem versorge, was der Körper brauche und verweist auf das einjährige Experiment von Vilhjalmur Stefansson. Dieser ass ein Jahr nur Fleisch und liess sich wissenschaftlich begleiten.
Wie konnten die Polar-Inuit die Kälte aushalten? Ihre Kleidung schützte sie effektiv. Ihre Fellstiefel reichten bis zu den Knien und bestanden aus wasserdichter Robbenhaut. Ihre Strümpfe waren aus Hasen- oder Hundehaut, die Hosen der Männer aus Eisbärhaut. Ihre Mäntel bestanden aus bis zu acht Seehundhäuten. Daraus machten sie auch ihre Handschuhe. Als Schutz gegen Schneeblindheit schnitzten sie Holzbrillen mit einem Schlitz für die Augen.
Die Stiefel der Frauen waren noch länger und bedeckten gar die Hüfte. Die Frauen hatten dafür nur kurze Hosen aus Fuchshaut. In dem Oberteil der Strümpfe befanden sich Taschen, in der sie Tabak u.ä aufbewahren konnten oder ihre Hände wärmen.
Aufgrund fehlender grösserer Mengen an Frischwasser war Hygiene ein ständiges Problem. Hände und Gesicht wuschen sie mit Schnee. Körperwäsche mussten sie auf ein Minimum beschränken.
Die Gemeinschaft der Polar Inuit war nicht besonders gross. Sie zählten um die 250 Leute, jeder kannte jeden. Jede Familie hatte im Schnitt vier Kinder. Die Kindersterblichkeit war hoch. Es gab keine institutionalisierte Hierarchie und niemand, nicht einmal der Schamane, konnte anderen etwas vorschreiben. Das heisst, eine besondere Macht hatte der Schamane schon - aufgrund seiner besonderen Fähigkeit, mit den übernatürlichen Mächten zu kommunizieren, Menschen zu heilen, indem er ihre Seele zurück holt etc. Wirkliche Anführer waren Schamanen nur in kritischen Situationen. Auch Männer und Frauen waren "gleichberechtigt". Grosse Unterschiede an persönlichem Besitz gab es nicht. Schon deswegen nicht, da nur Kleider, Werkzeuge und dergleichen persönlicher Besitz war. Essen, Häuser und Jagdgründe waren Gemeinschaftsbesitz (wie wir noch sehen werden, sind die Gesellschaftsverhältnisse bei den Pazifik-Inuit ganz anders!).
Die Tötung von Kleinkindern (unter 3-4 Jahren) ist ein heiss debattiertes Phänomen. Gilberg schreibt, dass dies in Hunderperioden durchaus vorkam und Jungs genauso wie Mädchen betraf.
Jeder Name hat eine Seele mit dem ihr eigenen Charakter. Der Name eines Verstorbenen war tabu und wurde nie ausgesprochen - so lange bis er einem Neugeborenen gegeben wurde. Deshalb bekamen Babies oft den Namen eines kürzlich Verstorbenen. Trotz des Christentums lebte dieser Brauch in den 1980er-Jahren noch. in den 60er-Jahren erteilten ihnen dänische Behörden Nachnamen. In der Regel wurde man kaum älter als 60.
Besondere Initiationsriten gibt es keine. Anfang des 20. Jahrhunderts heirateten Mädchen im Alter zwischen 12 und 16 Jahren. Vor der Missionierung waren sie schon als Kinder von ihren Eltern verlobt worden. Das frisch verheiratete Paar blieb zuerst im Elternhaus des Mannes wohnen, bevor sie auszogen. Im Alter zogen die Eltern zu ihren Kindern. Im Gegensatz zu anderen Inuit-Gruppen waren sie monogam. Singles hatten es besonders schwer, da sie aus ökomischen Gründen allein keinen Haushalt führen konnten. Vor der Missionierung wurden immer wieder Frauen ausgetauscht. Dazu konnte sie der Schamane auffordern - um die Natur zu beeinflussen, Jagdglück zu bringen etc.
Im 20. Jahrhundert gab es mehrere Ereignisse, die das Leben der Inuit veränderten. Neue Technologie führte Robert E. Peary auf seinen Expeditionen zum Nordpol (1891-1909) ein. Er bezahlte den Polar Inuit die Dienste als Jäger und Führer mit Waffen, Munition, Stahlmessern und Primus-Oefen. Knud Rasmussen errichtete 1910 eine Handelsstation. Die Inuit wurden abhängig von fremden Waren. Zu der Zeit kamen Lutherische Missionare, 1912 wurde der erste Polar Inuit getauft. Insgesamt, so Gilbert stieg der Wohlstand aufgrund verbesserter Technologie und milderen Klimas mit mehr Meerestieren an.
Nach dem Zweiten Weltkrieg veränderte vor allem die Errichtung des amerikanischen Luftwaffenstützpunktes in Thule das Leben (Bericht über US-Station). Hintergrund war der Koreakrieg und der Kalte Krieg. In den 50er-Jahren wurde eine richtige Stadt errichtet. Um die 6000 Soldaten wohnten da. In den 80er-Jahren waren es nur 1500 Soldaten, ausserdem 1500 dänische Zivilpersonen. Oelverschmutzung und Lärmbelästigung hatten zur Folge, dass 27 Familien umgesiedelt werden mussten (mehr zum Kampf der Inuit gegen die US-Station)
1960 lebten alle Polar Inuit in Holzhäusern. Viele verlassen immer noch im Sommer das Dorf, gehen auf die Jagd und leben in Fellzelten. Da die Inuit einen festen Wohnsitz haben, wird die Reise zu den Jagdgründen immer länger.
Die Einführung von Geld führte zu einer Schichtung der Gesellschaft, basiert auf der Akkumulierung von Geld und Besitz. Jobs gibt es in der Verwaltung und neuerdings im Tourismus. Manche wandern in den Süden ab.
Inuit language thrives in Greenland
(While Inuit in Nunavut were punished for speaking Inuktitut in residential schools, Greenland has a long history of teaching Greenlandic in schools, since the early 20th century - Nunatsiaq News, 29.6.07)
Inuit survival battle against US base (A remote Inuit community of hunters in Greenland has taken a case to the European Court of Human Rights to fight for its "survival" - BBC 27.5.04)
Inuit und Umweltverschmtzung in Grönland (The Inuit of Greenland have the highest concentrations of industrial chemicals and pesticides found in any humans on Earth levels so extreme that some of their breast milk and tissues could be classified as hazardous waste - Transskript eines Radio-Interviews, Living On Earth, 13.2.04) / siehe auch Toxin threat to Inuit food (BBC, 1.4.03)
GRÖNLAND: Verbotene Heimat (Rückkehr nach Thule, in ihre alte Heimat: ausgeschlossen. Die geforderte Entschädigung: abgelehnt. Vor 50 Jahren wurden sie vertrieben, mussten 140 Kilometer entfernt ein neues Dorf aufbauen, weil die USA in Thule eine Raketenbasis errichten durften - NDR, 7.12.03) / siehe auch