Inuit und die Arktis /
Anhang: Entdeckungs- und Forschungsgeschichte


Die Geschichte ethnografischer oder ethnologischer Forschung ist auch in der Arktis eng mit der Kolonial- bzw Imperialpolitik Europas verbunden. Es war die Suche nach der berühmten Nordwestpassage, welche das allgemeine Interesse auf die Arktis lenkte.

Wichtig waren aber auch technische Voraussetzungen für die Schiffahrt. So ermöglichte erst die Erfindung des Chronometers im 18. Jahrhundert und damit die Fähigkeit, Längen- und Breitengrade auf dem Meer zu bestimmen, die Erstellung von Karten.

Zu den Expeditionen der britischen Krone zählt die von Captain Parry und Lyon (1821-23). Sie verbrachten während ihrer Suche nach der Nordwestpassage zwei Winter in Gesellschaft mit den Fox Bay Inuit, die später als Igloolik bekannt wurden. Die erste umfassende Beschreibung des Lebens der Inuit stammt jedoch von Missionaren. Im 18. Jahrhundert beschrieben Hans Egede und David Cranz das Alltagsleben und die religiösen Praktiken von Inuit in West-Grönland.

Der Kontakt der Inuit mit den Europäern reicht weiter zurück. Sie waren laut David Damas (1986) die ersten Ureinwohner Nordamerikas, die mit Europäern in Kontakt traten. Er denkt dabei an die Wikingerfahrten. Häufiger wurde der Kontakt im 18. Jahrhundert, als Grönland Kolonie wurde, Missionare an die Küste Labrados reisten und die Russen nach Westalaska eindrangen. Die zentralen Gebiete wurden erst im 19. Jahrhundert erkundet - wie gesagt im Zusammenhang mit der Suche nach der Nordwestpassage. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelangten Walfänger in das Mackenzie Delta und in die Hudson Bay.  

Erste Ethnografien

In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts begann die systematische wissenschaftliche Erforschung der Bewohner der Arktis. Als Alaska von den Russen an die Vereinigten Staaten 1870 verkauft wurde, entsandte die amerikanische Armee zwei Beobachter: E. Nelson (in die Bering Detroit-Region) und J. Murdock (Point Barrow Region). 1883-84 war der Amerikaner L. Turner in Ungava, der Deutsche Franz Boas auf Baffin Island und der Däne G.Holm in Ammassalik. Sie alle veröffentlichten Ethnografien über die Inuit-Gruppen, die sie besucht hatten.

1901-04 forschte Boas für die "Jesup North Pacific Expedition", dessen Ziel es war heraus zu bekommen, ob die Indianer Nordamerikas wirklich aus Asien eingewandert sind. Und zwar, indem sie das Leben der Menschen diesseits und jenseits der Bering-Strasse verglichen. Bogoras und Jochelson waren die Leiter der Expedition.

Die Arktis in der Ethnologie

Die Uebersetzung dieser Werke ins Englische beeinflusste die Entwicklung des Fachs Ethnologie merklich. Marcel Mauss veröffentlichte 1906 "Seasonal Variations of the Eskimo". Robert Lowie benutzte die Daten aus der Arktis, besonders Bogoras Werk über die Tschuktschen, um gegen den evolutionistischen Zeitgeist anzuschreiben. Die Formen gesellschaftlicher Organisation seien zu vielfältig, um daraus allgemeine Gesetze ableiten zu können (u.a. Lowie 1920).

Zwei grosse Expeditionen beeinflussten die Ethnologie besonders. Die erste, die kanadische (1913-18) unter der Leitung von W.Stefansson studierte die Copper Inuit. Von Diamond Jenness stammen mehrere Ethnografien und besonders eindrückliche Schilderungen schamanistischer Sitzungen. Die zweite Expedition war die "5th Thule Expedition" von Knud Rasmussen. Sie durchreisten die kanadische Arktis und Nordalaska in der Länge und in der Breite.

Rasmussen, Kind einer Ehe zwischen einer Grönländerin und einem Dänen, beherrschte die Inuit-Sprache und nahm die Inuit ernster als sämtliche seiner Zeitgenossen. Seine Beschreibungen sind gewiss mit die wertvollsten jener Zeit. Vielleicht auch für die folgenden Jahrzehnte. Denn mehrere Jahrzehnte machte kaum jemand Feldforschungen zu Themen wie Schamanismus, Riten und Tabus. Rasmussens Daten waren zentral für die vergleichende Religionswissenschaft, besonders für die skandinavische Schule um Ake Hultkrantz.

Mehrere Konzepte aus der arktischen Forschung, die heute überholt sind, haben die Ethnologie beschäftigt: Die abenteuerlichen Vorstellungen von "sexuellem Kommunismus" und von "ökonomischen Kommunismus" gehören dazu wie das der "arktischen Hysterie" und der "Eskimo-Typ" in der Verwandtschaftsterminologie. Letzterer geistert anscheinend immer noch als eines von acht Haupttypen auf der Erde in den Köpfen umher, obwohl die Inuit kein einheitliches Verwandtschaftssystem haben.

Industrialisierung und Modernisierung

Nach und nach musste sich die Ethnologie mit den durch die Europäern herbei geführten Aenderungen auseinander setzen. Kaum ein Faktor hat das Leben der Inuit in jüngerer Vergangenheit mehr verändert als der Pelzhandel. Er war schon früh eingeführt worden - von Skandinaviern in Grönland und von den Rusen in Alaska und auf den Aleuten.

Die Folgen waren jedoch unterschiedlich. In Kanada gaben Inuit während den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ihr nomadisches Leben auf und begannen in Siedlungen zusammen mit Weissen zu leben. In Grönland entstanden neue Städte, doch die meisten blieben in ihren abgelegenen Jagd- und Fischerdörfern. Für die Alaska-Inuit war der Wandel nicht so dramatisch, hatten sie schon lange das Jagen mit Wanderungen zu Industriezentren verbunden. Die siberischen Inuit wurden in den Nationalstaat der Sowjetunion einverleibt und mussten ihre Rolle als Produzenten für die Sowjetwirtschaft erfüllen.

Kulturwandel-Studien

Nach 30 Jahren Forschungsstillstand kamen in den 50er- und 60er-Jahren mehrere Studien über die Westliche Arktis heraus (u.a. VanStone 1962). Community-Studies, von der kanadischen Regierung gesponsert, stellten einen neuen Schwerpunkt dar (u.a. Graburrn 1964).  Ende der 60er-Jahre studierten skandinavische Ethnologen Kulturwandel und das Aufkommen ethnischen Selbstbewusstseins in Grönland (u.a. Kleivan 1969). Sowjetische Anthropologen dokumentierten, wie siberische Inuit an der nationalen Oekonomie teilhaben (Hughes 1965).

In den vergangenen Jahrzehnten stand vor allem ein Thema im Mittelpunkt: die Rolle der Inuit als Minderheit in den Nationalstaaten - besonders im Hinblick auf "kulturelles Ueberleben" und "Recht auf Selbstbestimmung". Jean Briggs (1970) musste ernüchtert feststellen, dass der Schamanismus quasi aus dem kulturellen Repertoir verschwunden ist und sich Inuit am liebsten als fortschrittliche Menschen präsentieren. So erging es vielen Forschern, dessen Bücher oft einen Anstrich von Nostalgie und Zukunftspessimismus aufweisen. Briggs war jedoch so flexibel und studierte stattdessen den Umgang mit Gefühlen in einer Inuit-Familie. Herausgekommen ist einer der spannendsten Ethnografien der Arktis. Stark macht ihr Buch die Schilderung persönlicher Erlebnisse während der Forschung.

Eine andere positive Ausnahme ist Hugh Brody. Sein Engagement für Survival International führt bei ihm nicht zu Einseitigkeit. Souverän porträtiert er in "Living Arctic" das Leben der Inuit und demontiert gänge Klischees in Forschung und Oeffentlichkeit.



Lorenz Khazaleh, Januar 2001, aktualisiert Februar 2003



:INHALT INUIT UND DIE ARKTIS:

Teil 1: Wer sind die Inuit - ein Überblick

Teil 2: Inuit in Grönland und Polar Eskimo

Teil 3: Inuit in Kanada und Central Eskimo

Teil 4: Schutz gegen Kälte: Kleidung und Iglus

Teil 5: Transport: Hundeschlitten und Kayak

Teil 6: Wirtschaft: Atemlochjagd, Karibujagd, Jagd mit Kayak

Teil 7: Gesellschaftsordnung und Schamanismus

Teil 8: Inuit am Pazifik

Teil 9: Inuit in Asien




:MEHR DAZU IM NETZ:

Die Suche nach der Nordwestpassage (ub.uit.no, auf Deutsch)

Portrait von Knud Rasmussen mit Buchauszuegen (amassalik.de)

Artikelsammlung zur Entdeckung und Kolonialisierung der Arktis (arcticcircle.uconn.edu)