Wie fasse ich meine Feldforschung zusammen? Dieses Kapitel verursachte mir
das meiste Kopfzerbrechen. Verstehen ist ein Prozess. Erkenntnis ist abhängig
von Zeit. Ein plötzlicher Gedanke, ein Gespräch, die Lektüre eines Textes
können ein Resumée in ein neues Licht rücken, man beginnt, den Text
umzuschreiben, da kommen neue Gedanken - ein nie endender Prozess, der
einen nicht automatisch der Wahrheit näher bringt. Was ist die Essenz meiner
Beobachtungen, Erlebnisse und Gespräche? Was erzählen sie über Hip-Hop in
Basel?
Ein Teil der Antworten basiert auf den Aussagen der Interviewten, die ich
lediglich wiedergebe, der andere besteht aus der Interpretation von
Gesehenem, Gehörtem und Erlebtem und ist somit subjektiver gefärbt. Jeder
setzt andere Schwerpunkte, da man die Welt mittels seines individuellen
Vorwissens interpretiert. Es gibt mehrere Studien in ein und demselben
Gebiet, die zu gegensätzlichen Ergebnissen kommen. Wichtig ist hierbei, dass
die Schlüsse für Aussenstehende nachvollziehbar sind. Deshalb räumte ich den
Interviews einen so prominenten Platz in der Arbeit ein (und verbannte sie
nicht in den Anhang, was das gewöhnliche Vorgehen gewesen wäre).
In dieser Arbeit habe ich beschrieben, wie es an einem Jam zugeht, wie die
Bedingungen meiner Forschung waren, elf Hip-Hop-Künstler und
Künstlerinnen haben von sich erzählt, davon, was Hip-Hop ist, was Hip-Hop
sein kann. Lässt sich von ihnen auf alle andere Hip-Hop-Künstlerinnen und
Künstler in Basel schliessen? Natürlich nicht, jeder ist schliesslich "sein
eigenes Universum" (Puccio) und nur der wird anerkannt, der einen eigenen
Stil hat. Andererseits identifizieren sie sich mit der globalen Hip-Hop-Kultur
und teilen mit ihren Kolleginnen und Kollegen einen gemeinsamen Nenner,
was Lebensstil und Lebensfilosofie anbelangt. Sie repräsentieren Hip-Hop.
Man macht nicht Hip-Hop, sondern man ist Hip-Hop (KRS-One 1996:5).
Ich präsentiere hier einige der Einsichten meiner Forschung. Für mich gilt wie
alle Feldforscher: Selbst nach langen Studien weiss man noch lange nicht so
viel wie ein Insider. Wie sagte es Fredrik Barth so schön: Ein Feldforscher
muss mit einer Kaffeetasse die Niagarafälle einfangen.
Wer gehört dazu?
Unterhalten habe ich mich mit elf von mehreren hundert Aktiven. Interessant
wäre noch gewesen, die Nicht-Aktiven zu hören: die Leute, die auf
Veranstaltungen gehen, aber in keine der Sparten des Hip-Hop aktiv sind. Sie
spielen eine ambivalente Rolle. Eine Frage, die immer wieder in der Szene für
Diskussionen sorgt, ist die der Mitgliedschaft in der Hip-Hop-Szene. Wer
gehört dazu? Hip-Hop besteht aus den Disziplinen DJ-ing, Breakdancen,
Sprühen und Rappen. Dürfen sich also nur Leute, die breaken, dj-en, rappen
oder sprühen, als Hip-Hopper bezeichnen? Was ist mit denen, die gerne die
Musik hören, Breakern zuschauen, sich für Graffitis begeistern, sich in der
Szene wohlfühlen, auf Jams gehen? Gehören sie nicht auch dazu? Darüber gibt
es unterschiedliche Meinungen.
Auf den ersten Blick scheint die Frage von sekundärer Bedeutung zu sein. Sie
ist wichtig, weil es um Repräsentation geht. Jede gesellschaftliche Gruppe
oder Institution legt Wert darauf, Kontrolle über ihr Erscheinungsbild nach
aussen zu haben (für überzeugende Beispiele siehe GOFFMAN 1959). Firmen,
Behörden oder Vereine haben extra Leute beschäftigt, die für
Öffentlichkeitsarbeit zuständig sind und die wissen, wie sie aufzutreten haben,
was sie sagen dürfen und was nicht.
Die Hip-Hop-Szene Basels ist nur sehr lose organisiert. Es gibt viele kleinere
Gruppen (Crew, Posse), die nebeneinander existieren. Zeitweise gab es
grössere Hip-Hop-Vereinigungen, von ihnen ist nur die Kings Organisation
(K.O.) von ACE übrig geblieben, Bee 4 Real hat sich in "lootin entertainment"
und "broken shit records" aufgespalten. Die wenigsten Mitglieder haben noch
einen Überblick über die Szene. Wer darf nun in der Öffentlichkeit Aussagen
über Hip-Hop machen?
Nach einem kurzen Gespräch mit einem Hip-Hopper,
der noch nicht lange aktiv ist, bekam ich von einer Ex-Breakerin zu hören:
"Du kannst doch nicht irgend jemanden nehmen und ihn über die Szene
ausfragen." Black Tiger regt sich über manche junge Sprüher auf: "Viele
fangen an, ohne viel zu können und sprühen blindlings die ganze Stadt zu. Das
verschlechtert unser Image."
"Echte Hip-Hopper fallen nicht auf"
Wie bilden sich Meinungen? Die öffentliche Meinung über Hip-Hop zum
Beispiel? Wir urteilen nach unserem Wissens- und Erfahrungsschatz. Wer
nichts mit der Szene zu tun hat, ist auf Informationen aus zweiter Hand
angewiesen: von den Medien, vom Hörensagen. So entstehen Vorurteile. Und
die gibt es zuhauf. Hip-Hop, so bekam ich immer wieder zu hören, ist für viele
Uneingeweihte:
Musik für Kids aus der Vorpubertät
Eine Szene von arbeitslosen Ausländern, die sich gerne wie in der Bronx
fühlen
Gewalt, Bande gegen Bande, Gangsta Rap
Kriminelle Vandalen, die die Stadt verschmieren
Nur eine Modeerscheinung
Sprüher Kron brachte es auf den Punkt: "Das Problem ist, dass Leute aus dem
Kern nicht auffallen." Aussenstehende denken bei Hip-Hop an die 14jährigen
"Mode-Hip-Höppler", die Hip-Hop nur von Viva oder MTV kennen. Diese
Kids prägten auch das Klischee von der Hip-Hop-Kleidung: aufgeblasene
Jacken, weite Hosen etc - den Gangsta- oder Ghettolook, wogegen die
Besucher auf einem Jam im Sommercasino oder in der Kaserne gar nicht dem
Klischee entsprechen.
Kleidung erzählt etwas über unsere Persönlichkeit. Bauern laufen anders
herum als Bankdirektoren, Ethnologiestudenten anders als Jusstudenten, die
neue 26jährige SP-Nationalrätin Ursula Wyss anders als ihr 25jähriger
SVP-Nationalrats-Kollege Toni Brunner. Wir dürfen jedoch nicht den
Umkehrschluss machen. Zu einer Szene gehört nicht zwingend eine "Uniform".
Ich fühlte mich an Verhältnisse bei Samen und anderen "indigenen Völkern"
erinnert, die um ihre Rechte kämpfen. Die samische Musikerin Mari Boine
erzählte mir, wie sehr sie anfangs Wert darauf gelegt hatte, traditionelle
Trachten zu tragen. Sie brauchte die Kleidung, um sich selbst und anderen zu
zeigen, wer sie ist und wie sie angesehen werden wollte. Sie war unsicher. Jetzt
hat sie Selbstvertrauen gewonnen - und Trachten zieht sie keine mehr an.
Genauso wenig haben es aktive Hip-Hopper nötig, mit der sogenannten
Hip-Hop-Mode herum zu laufen. Sie ziehen an, was bequem ist und den
Anforderungen ihrer Arbeit entspricht. Sie leben Hip-Hop. Es sind in erster
Linie die Konsumenten, die mit teuerer Marken-Ghetto-Kleidung anderen
erzählen wollen, mit wem sie sich identifizieren, wie sie angesehen werden, sich
selbst sehen wollen.
Wir dürfen aber Kleidung nicht überinterpretieren, Leute
deswegen in Schubladen stecken. Manche der Konsumenten (sie darf man
nicht über einen Kamm scheren) sind für die Existenz des Vorurteils
verantwortlich, es gebe einen Zusammenhang zwischen Hip-Hop und Gewalt.
Klar, viele der Aktiven haben früher mal "Scheisse gebaut" - wer hat das
nicht? Dies waren oft schlecht oder gar nicht in die Hip-Hop-Community
integrierte Leute, die gefrustet und gelangweilt waren oder nicht in einer der
Hip-Hop-Disziplinen zurecht kamen. Sie wollten Aufmerksamkeit erregen
(siehe auch FISCHLI 1994 und FRINGS 1997).
Die Hip-Hop-Ideologie
verlangt, diese Leute zu respektieren, doch legen viele Aktive Wert darauf,
sich von diesen Leuten abzugrenzen. Sie repräsentieren nicht Hip-Hop.
Aus Aussenseitern werden anerkannte Künstler:
Basler Hip-Hop-Geschichte
Basel hat eine lebhafte Hip-Hop-Szene. Sie hat Künstlerinnen und Künstler
hervor gebracht, die einen hohen Professionalisierungsgrad erreicht haben und
schweizweit zu den Besten zählen. Man denke an die Breakdance Crew "Basel
City Attack" (dreifache Schweizer Meister) um Cozkun (bester Single Breaker
Europas 1998) oder an DJ Ace (Schweizer Meister im Scratchen 1996,
zweifacher türkischer Meister 1997 und 1998). Die (Graffiti-) Line in der
Einfahrt vom Bahnhof SBB, an der auch Werke von Kron zu sehen sind, ist
europaweit bekannt und geschätzt. Der Erste, der auf Schweizerdeutsch
rappte, war ein Basler (Black Tiger).
Allein während meiner Forschung entstanden mehrere Rap-Projekte: Basler
erschienen auf einem Sampler anlässlich 150 Jahre Bundesstaat (Skeltigeron)
und auf einem europäischen Hip-Hop-Sampler (TNN), nehmen eine Platte mit
Kollegen aus Luzern auf (AOH-Family), feiern eigene LP- oder CD-Debuts
(Black Tiger, tafs, MC Rony, P-27, bald Tarek und Dr.Kalmoo). Tarek erregte
Aufsehen mit seiner neuen Form von Buchstabenkunst, einer
Weiterentwicklung von Graffiti, und darf separat in Stuttgart und München
ausstellen. Poet besitzt eine eigene Plattenfirma, Puccio ein Aufnahmestudio
(mit Kollegen), Ace einen Laden, Cozkun drei Tanzschulen, Chéjah konnte
man auf Viva und MTV sehen.
Man findet Hip-Hop-Künstler auch auf grenzüberschreitenden
Mädchen-Aktions-Tagen (Mickey) und im Theater im Stück GleisX (u.a.
Black Tiger, Tarek, ein neues Stück ist geplant). Sie sind um die 20 Jahre alt,
treten schon als Manager auf und verhandeln mit Paris, London, New York
und Tokio.
Immer mehr Leute können von ihrer Leidenschaft leben und werden auch
immer mehr ausserhalb der Hip-Hop-Community anerkannt. Natürlich gibt es
noch genug Leute, die Hip-Hop belächeln und es als pubertäres Getue
abqualifizieren. So ergeht es offenbar jeder neuen Musikrichtung und
Musikkultur, selten anerkennen die Älteren den Geschmack der Jüngeren:
Jazz, Blues, Swing, Rock, Pop, das war früher einmal aufrührerisch, für junge
Leute von heute ist es wenig aufregende Mainstream-Musik der
Erwachsenen. Doch: Wer will schon allen gefallen?
Niemand hat die Entwicklung, die Hip-Hop in Basel die letzten Jahre
durchgemacht hat, voraus gesehen. Die meisten Aktiven beurteilen sie positiv.
Chéjah: "Damals wünschten wir uns das, was heute läuft. All die Parties, die
Klamotten, die vielen Kontakte europaweit!" Mühe haben manche mit den
Nebenwirkungen des Kommerzes. Wie erstaunlich die Entwicklung ist,
verdeutlicht ein Blick zurück auf die Anfänge der Hip-Hop-Bewegung in Basel.
Als es noch keine Zuschauer gab: Hip-Hop als Verzweiflungsschrei
Hip-Hop in Basel begann Anfang der 80er-Jahre in einem sehr kleinen Kreis
von jungen Leuten Fuss zu fassen. 1981 hatte Kron das erste Graffiti gesehen
(am St.Johann Schulhaus). Hip-Hop wurde vor allem durch Filme wie "Wild
Style" und "Style Wars" um 1984 herum beliebt. In den 80er-Jahren waren
auf einem Jam so gut wie nur Aktive im Publikum, Zuschauer wie heute gab es
nicht.
Hip-Hop entwickelte sich hier wie in den USA als Selbsthilfe-Bewegung von
Jugendlichen, die sich an den Rand gedrängt fühlten: Ausländer aus den
unteren Schichten, vorwiegend Spanier, Italiener und Jugoslawen. "Es war ein
Verzweiflungsschrei", erinnert sich Sprüher Kron. "Wir wollten sagen, uns gibt
es auch noch." Hip-Hop war für sie "ein ideales Forum, um ihrem
Unverständnis freien Lauf zu lassen" (Black Tiger).
Sie waren auf der Suche
nach Selbstbestätigung, dem Gefühl, auch etwas wert zu sein. Sie konnten sich
und anderen zeigen, dass auch junge Ausländerinnen und Ausländer etwas
Tolles zustande kriegen können. Sie gaben sich einen Künstlernamen, der dies
oft symbolisiert (z.B. "Tuff Kid"). Hip-Hop gab eine Lebenseinstellung mit, die
ihnen durchs Leben half.
Hip-Hop, sagte Black Tiger, sei eine Therapie zur Selbstentwicklung, ein
Forum für unterdrückte Kreativität. In den vier Sparten des Hip-Hop konnten
sich die Jugendlichen entfalten: als DJ, Rapper, Sprüher oder Tänzer. In der
Hip-Hop-Welt wurde man nicht wegen seiner Nationalität oder
Schichtzugehörigkeit diskriminiert. Sie alle waren eine Familie von "brothers
and sisters". Jeder kannte jeden, und man hatte gemeinsam Spass. Im
St.Johann, so Kron, haben sie auf der Strasse auf Kartons getanzt und sich im
Park getroffen, den Ghettoblaster unterm Arm. Sie fielen auf mit ihrer
Kleidung. Jeans und Turnschuhe, womit heute jeder herumläuft, waren früher
aufrührerisch.
Eine mühsame Suche nach Platten und Graffiti-Büchern
Sie hatten es in vielerlei Hinsicht schwerer als Hip-Hopper von heute. Es gab
keine Infrastruktur. Fast alle Plattenläden verkauften keine Rap-Platten. Die
musste man sich mühsam aus England oder den USA beschaffen. Radio- und
Fernsehsender boykottierten Rap (MTV bis 1988), das Rockmusik-Milieu
wollte nichts von Hip-Hop wissen. In Clubs stand im Eingangsbereich
angeschrieben: "Wir spielen nur gute Musik, keinen Rap!" Heute kann man
Breakdance im Internet lernen und sich dort von Graffiti-Gallerien aus aller
Welt anregen lassen.
Diese Möglichkeiten hatte man damals nicht. Chéjah
erinnerte sich daran, wie sie sich "eins abkrampften, um nach New York zu
fliegen, weil sie hier keine Adidas Superstar fanden oder um die
Graffiti-Bücher zu kaufen, weil es hier 1986 noch nichts gab". Die
internationalen Kontakte waren spärlich, die meisten, so Mickey Laze,
besuchten lediglich Jams in anderen Schweizer Städten, ein Trip nach
Frankreich oder Deutschland war schon etwas Besonderes.
Drogen und Gewalt spalten die Szene: "Wake Up" als Wendepunkt
Die 80er-Jahre war ein Frust-Jahrzehnt für Jugendliche. Jugendproteste waren
in der ganzen Schweiz an der Tagesordnung. Viele waren frustriert, weil sie das
Gefühl hatten, nirgendswo erwünscht zu sein. Es gab kaum Treffpunkte.
Während dieses Jahrzehnts demonstrierten sie für die Errichtung autonomer
Jugendzentren (AJZ). Die wenigen Jugendtreffpunkte in Basel, so Nicole
Schwarz, wurden Mitte der 80er-Jahre wegen eskalierender Gewalt zeitweise
geschlossen. Wohin jetzt? Viele landeten auf der Strasse, Frust und Gewalt
nahmen zu, die Steinenvorstadt wurde berüchtigt für seine gewalttätigen
Gangs.
Unter den Schlägern waren auch Hip-Hopper. Darunter hatten die Hip-Hopper
zu leiden, die nichts mit der Gewalt zu tun haben wollten. Die Szene war
gespalten, Hip-Hop verrufen. Kron: "Wir konnten gar nicht erst auf
Raumsuche gehen. Wenn man sagte Rap, war es aus. Wenn du in der
Steinenvorstadt warst, und Bullen sahen dich mit Turnschuhen und Käppi,
wurdest du gleich mitgenommen."
Zu Beginn der 90er-Jahre kam das Drogenproblem. Immer mehr Jugendliche
nahmen Heroin. Massenschlägereien, erzählt Puccio, waren an der
Tagesordnung. Viele Aktive in der Hip-Hop-Szene konnten es nicht mit
ansehen, wie die anderen, darunter auch Bekannte, an den Drogen zugrunde
gingen und stellten 1993 eine Anti-Drogen-Aktion ("Wake Up") auf die Beine:
Sie schrieben einen Rap, veranstalteten ein Konzert auf dem Barfüsserplatz,
darauf folgte ein Präventionssampler und eine Tournee durch die Schweiz.
Diese Aktion war nach Einschätzung der Aktiven eine Art Wendepunkt. Über
23000 Leute, so Chéjah hätten sie angesprochen, darunter auch Jugendliche,
die heute reimen. Black Tiger: "Jetzt ist Heroin aus dem Hip-Hop-Milieu
verbannt. Du bist Aussenseiter, wenn du Heroin nimmst. Das hat Wake Up
bewirkt." Kurz danach haben Tarek und Puccio eine Vereinigung gegründet,
welche die positiven Seiten der Hip-Hop-Kultur fördern soll, die Qualität
anheben (Bee4Real), um so Leute von Gewalt und Konsum harter Drogen
abzubringen. Sie organisierten Workshops, Projekte, Parties und Festivals,
brachten ein Theaterstück (GleisX) auf die Bühne. Sie hatten Erfolg, meint
Puccio: "Wir merkten, die Leute wurden lockerer und besser drauf."
Zur gleichen Zeit (1994) hat ACE die Kings Organisation gegründet - mit
einem ähnlichen Ziel vor Augen. Er wandte sich besonders an seine
Landsleute, die Türken. Sie hatten einen schlechten Ruf und sollten zeigen,
dass auch sie gute Parties organisieren können. ACE: "Wir haben
Störenfriede integriert und angestellt. Wir hatten Erfolg." Hilfe erhielten sie
von der House- und Technowelle, die einen grossen Teil der schlecht in die
Szene integrierten Leute abpumpte.
Hip-Hop wird Mode: Generationenkonflikt und Professionalisierung
Zu dieser Zeit wurde die Szene neu durchmischt. Viele Neue kamen hinzu
durch den Hip-Hop-Boom um 1993/94, ausgelöst durch die Kommerzialisierung
der Strassenkultur. Rap wurde in verpoppter Form der breiten Masse
zugänglich. Auf der anderen Seite war die Kommerzialisierung auch eine
Chance für den "eigentlichen Hip-Hop", der immer mehr ins Radio- und
Fernsehprogramm integriert wurde. Was heute auf Couleur 3, im Black Music
Special auf DRS 3 oder in den Hip-Hop-Sendungen auf VIVA und MTV läuft,
ist nicht nur Hitparadenmusik!
Die Öffentlichkeit wird nach und nach auf das
künstlerische Know-How in der Szene aufmerksam, und Hip-Hop-Kultur taucht
auf Vereins- und Firmenfesten, in Sportabteilungen von Kaufhäusern und im
Theater auf.
Die vielen neuen Leute stellen für die "alten Hasen" der Old School eine
Herausforderung dar. Die Neuen haben einen ganz anderen Background, sie
lernten Hip-Hop nicht auf der Strasse kennen, sondern im Wohnzimmer, vor
dem Fernseher. Die Folge: In der Hip-Hop-Szene entsteht ein
Generationenkonflikt! In vielen Gesprächen lamentierten die Älteren über die
Jüngeren auf ähnliche Weise wie Omas und Opas über ihre Enkelkinder.
Kron: "Die Jüngeren zeigen keinen Respekt mehr. Sie kaufen sich Klamotten
und meinen, sie seien cool. Sie wissen nicht Bescheid über Hip-Hop."
Die Hip-Hop-Künstlerinnen und Künstler, die schon länger dabei sind, haben
sich inzwischen qualitativ weiter verbessert. Für sie ist Hip-Hop ihr Leben, sie
sind Hip-Hop. Sie machen eigene Läden auf, gründen Plattenfirmen,
Aufnahmestudios. Die meisten Hip-Hopper arbeiten oder sind in Ausbildung,
immer mehr leben sogar vom Hip-Hop. Die Vorstellung von Hip-Hop, das nur
randständige arbeitslose Ausländer anziehe, stimmt nicht mehr. "Wir",
betonte A-Man von tafs, "sind eine neue Generation."
Die Krux mit dem Kommerz
Diese Entwicklung sorgt für viel Diskussionsstoff, sie tangiert zentrale Werte
der Hip-Hop-Kultur. Die Kommerzialisierung ist eine zweischneidige Sache.
Jahrelang ist Hip-Hop belächelt und niedergemacht worden. MTV hatte sich
geweigert, Rap-Videos auszustrahlen. Als Hip-Hop Mode wurde, tauchten
viele "Rapper aus der Retorte" auf: Leute, die keine Ahnung von Hip-Hop
und dessen Geschichte haben, es nur machen, um schnell Geld zu verdienen.
Aktive fragen sich: Darf man bei diesem Geschäft mitmachen? Bin ich dann
noch ich? Verkaufe ich dann nicht mich und meine Werte an den Markt? Die
neuere Musikgeschichte kennt viele abschreckende Beispiele von Musikern
und Bands, die einst im Untergrund tolle Musik machten, dann einen Hit
landeten, Interesse der Massen auf sich zogen, sich dann an den Geschmack
der Massen angepasst haben und langweilig wurden.
Die Kommerzialisierung betrifft Rapper, Breaker, Sprüher und DJs
gleichermassen. Breaker und Sprüher werden inzwischen von grossen Firmen
engagiert. Es ist verständlich, wenn Kron sagt: "Ich sprühe nicht für jede
Firma." Die Breakdance-Battle of the Year wird für Cozkun immer
unattraktiver, da es dort "nur noch ums Geld geht". Gute DJs sind überall
gefragt, doch ACE sucht sich seine Auftraggeber genau aus. "In
Schicki-Micki-Lokalen", sagt er, "kann ich mich nicht entfalten." Er zeigt sich
besorgt darüber, dass durch die Professionalisierung die Arbeit einiger
Hip-Hopper an Qualität nachgelassen habe. "Bei mir", betont er, "soll es nicht
so werden." Wird er sich treu bleiben können?
Am deutlichsten von allen Hip-Hop-Künstlern, mit denen ich mich unterhalten
hatte, hat MV (Mistress of Voice) Chéjah die rauhe Welt des Business kennen
gelernt: die "Ungerechtigkeiten", die "Mind Control", "falsche
Interpretationen" in den Medien, die einen "seelisch zerstören". Sie merkte
auch, wie man ständig auf der Hut sein muss, um nicht über den Tisch gezogen
zu werden. Sie suchte Zuflucht und Halt im Glauben an Gott und wurde religiös.
Vom Business hat sie sich aber nicht verabschiedet. "Hip-Hop", sagt sie, "ist
zwar im Ghetto entstanden, aber erfunden worden, damit man nicht im Ghetto
bleibt." Auch Black Tiger "will nicht im Untergrund sterben".
Wie alle anderen Interviewten haben sie eine pragmatische Einstellung zum
Kommerz. Sie holen sich das, wofür sie lange umsonst gearbeitet haben. Und
an ihrem Erfolg lassen viele der erfolgreichen Hip-Hopper Andere teilhaben.
Diese Einnahmen ermöglichen es ihnen, jüngere Künstler zu unterstützen und
gratis bei Kollegen aufzutreten. Puccio nennt es das "Robin-Hood-Prinzip".
Vom Markt profitieren? Warum nicht! Nur bei einem machen sie nicht mit:
beim "Sell-Out", dem Verkauf ihrer Persönlichkeit an den Markt. Die Grenze
muss jeder für sich selbst festlegen, über sie wird immer wieder heiss
diskutiert.
"Wenn du es willst, schaffst du es"
Die portraitierten Hip-Hopper haben nicht mehr viel mit den Aussenseitern
von früher gemeinsam. Sie haben lediglich mit dem Vorurteil anzukämpfen, sie
seien noch welche. Aus frustrierten Jugendlichen sind professionelle Künstler
geworden.
Wie haben sie das geschafft? "Wille" und "Überzeugung", sagt
Tarek. "Man muss nur genug schwitzen", erklärt Cozkun. Hip-Hopper sind
der pure Gegensatz zu Punks und manchen Gruppierungen aus der
Alternativbewegung, die in den 80er-Jahren mit einer pessimistischen "Es ist
eh alles sinnlos"-Einstellung ihre Opposition ausdrückten. "Wenn Du es
wirklich willst, schaffst Du es", ist eine im Hip-Hop-Universum verbreitete
Überzeugung und in verschiedener Form immer mal wieder auf Jams zu hören
("Lasst Euch nicht unterkriegen, powert drauf los!").
Das liegt sicher daran, dass es in erster Linie kreative Leute sind, die in die
Szene einsteigen. Leute, die ein Forum brauchen, um ihrer Kreativität freien
Lauf zu lassen. Und die ehrgeizige Stimmung im Hip-Hop-Universum gibt
einem einen zusätzlichen "Kick". So etwas wie "passive Mitgliedschaft" gibt
es nicht. Nur herum zu jammern und Forderungen zu stellen, ist verpönt. Um
angesehen und akzeptiert zu werden, muss man aktiv sein,
Leistungsbereitschaft zeigen - als DJ, Tänzer, Sprüher oder Rapper. Oder als
Künstlervermittler, Grafiker, Manager. Wichtig ist, dass man sich als Teil der
Hip-Hop-Kultur sieht, ihre Regeln und Werte akzeptiert und an deren
Weiterentwicklung arbeitet.
So hat Black Tiger jahrelang geübt und Beats zusammen gemixt und wie viele
seiner Kollegen mühselig Geld zusammengespart, um seinen Traum zu
verwirklichen. Schweizer Hip-Hop hat er neu definiert, nachdem er als Erster
auf Mundart rappte. Obwohl ihn alle davon abbringen wollten, war Cozkun
überzeugt, dass er von seiner Leidenschaft, dem Tanzen, leben könne.
"Künstler sein, das ist mein Job", sagt er.
Tarek hatte sich in den Kopf
gesetzt, auf der Kunstgewerbeschule die Buchstabenkunst weiter zu
entwickeln. Zwei Monate lang hat er für die Mappe für die Malerklasse
gemalt und in der Zeit nichts anderes gemacht. "Ich wusste, ich schaffe es",
sagt er.
Im oberen Waldenburgertal reagierten Hip-Hopper auf das mangelnde
Angebot für junge Leute auf dem Land. Sämtliche Firmen fragten sie an auf
der Suche nach einem Probe- und Aufenthaltsraum. Sie schafften es. Jeder der
jungen Leute hat etwas zugesteuert, gebracht, was er oder sie hatte. Das
Miteinander klappt schon ein paar Jahre, "weil wir eine Gemeinschaft sind"
(Poet).
"Ich bin gut und kann das zugeben"
Die Hip-Hop-Kultur ist ein Universum, wo es erlaubt ist, positiv von sich selbst
zu sprechen. Das wird sogar von einem erwartet. Man muss zu sich stehen.
überzeugt von sich sein im Sinne von "Ich bin gut und kann das zugeben"
(Black Tiger) und Kritik ertragen können, um bestehen zu können. Puccio:
"Man sagt, man ist gut. So pusht man sich auf."
Für Leute, die nicht gut drauf
seien, sei diese Strategie besser als psychologisches Training.
Ihre Werke,
seien es Raps, Graffitis, Tänze oder Mixe an Parties, sind öffentlich und damit
ständig der Beurteilung anderer - ob Lob oder Tadel - ausgesetzt. Ein Rapper
muss vor hunderten von Leuten auftreten können und die Gunst des Publikums
gewinnen. Keine einfache Sache! Welche Kunst das ist, wird deutlich, liest man
KRS-One's Buch "The Science of Rap" (1996).
Rapper können riskieren "gedissed" zu werden (von "to disrespect":
jemanden in einem Rap öffentlich kritisieren). Hip-Hop ist ein ständiges
Messen, jeder will "Fame" und "Respect" ernten. Breakdance-Crews
arrangieren gegeneinander "Battles". An Hip-Hop-Events gibt es
Tanzwettbewerbe, an denen es so ernst zugeht wie an
Kunstturn-Meisterschaften. Ein Graffiti übermalen darf man nur, wenn man
überzeugt ist, man könne ein besseres malen. Diese Art von Wettbewerb soll
anspornen, gut zu sein - eine Denkweise, die wir vom Hochleistungssport
kennen oder von der freien Marktwirtschaft. Sie ist vielleicht etwas universell
Menschliches (als Journalist möchte ich auch besser als mein Kollege vom
Konkurrenzblatt sein).
Es mag wichtig sein, sich an den geschichtlichen Hintergrund der
Wettbewerbs-Filosofie im Hip-Hop zu erinnern, an die Strassenkämpfe
verfeindeter Gangs in New York, an Afrika Bambaataa, der den Wettbewerb
auf kreative Weise nutzte, um Gewalt zu vermindern ("mit Tanzen, Rappen,
Sprühen und DJ-ing statt mit Fäusten").
"Wo bleibt die Family?"
Das ständige Messen ist kein unproblematisches Element im
Hip-Hop-Universum. Es fördert das Konkurrenzdenken, setzt Leute unter
Leistungsdruck und kann eine Quelle für Streit und Gewalt sein. Bei jedem
Wettbewerb gibt es Verlierer und nicht jeder hat für sich herausgefunden,
"dass es eigentlich keinen Besten gibt, sondern nur sehr viele Gute und sehr
viele verschiedene Stile" (Black Tiger). Manche werden ich-bezogen und
verlieren die Hip-Hop-Kultur als Ganzes aus dem Blick. Besonders Leute, die
länger dabei sind, bemängeln das.
ACE: - Lass mich eine Geschichte erzählen. Einmal sammelte einer alle
zu einem Diskussionsabend. "Wir machen alle dasselbe", sagte er.
"Wieso verkrachen wir uns? Lasst uns das zusammen machen!" Dann
meldete sich einer und sagte: "Wenn wir alles zusammen machen, gibt
es keinen Wettbewerb. Ohne Konkurrenz können wir uns nicht
weiterentwickeln." Das, glaub ich, erklärt das sehr gut.
Ich: - Den Zwiespalt?
ACE: - Ja.
Unter dem Wettbewerb kann der Family-Gedanke leiden. Der
Kommerz verstärkt die Individualisierung bei manchen Leuten. Seitdem man
mit Hip-Hop Geld verdienen kann, hat Cozkun bemerkt, dass manche Leute
bevorzugt ihre eigenen Wege gehen, der Zusammenhalt schwächer wird. "Wo
bleibt die Family?", fragt er. In der Hip-Hop-Kultur bewegt man sich zwischen
Werten, die sich widersprechen können: Solidarität und Individualität.
"Jeder ist sein Planet, jeder seine Filosofie"
In der Hip-Hop-Szene wird nämlich Solidarität genauso gross geschrieben wie
Individualität. "Jeder ist sein Planet, jeder ist seine Filosofie", erklärte Puccio
ganz begeistert. Es gibt niemand, der einem etwas zu befehlen hat. In der
Vereinigung B4R waren alle Mitglieder gleichberechtigt. Auch Cozkun mag
diese Denkweise. Er will "sein eigener Chef" sein. Das bedeutet auch, dass
jeder schauen muss, dass er selbst zurecht kommt, Eigeniniative wird verlangt.
Jeder ist seines eigenen Glückes Schmid. Für Einsteiger gibt es keine
Einführungskurse. Darum muss man sich selber kümmern. Und jeder muss
seinen eigenen Stil finden. Wer nur kopiert, wird nicht akzeptiert.
Es ist offensichtlich: Das Zusammenleben von so vielen selbstbewussten
Individualisten kann (nicht nur in der Hip-Hop-Szene!) zu Problemen führen.
Manche werden arrogant. Black Tiger erachtet es deshalb als notwendig, auf
Jams die Leute aufzufordern, auch denen Respekt zu zollen, die nicht gut sind.
Schnell ziehen Erfolgreiche den Neid anderer auf sich zu. "Keiner gönnt einem
was", meint Cozkun. Tarek empfindet das ähnlich, fühlt sich manchmal
ausgeschlossen, nachdem er sich vom konventionellen Graffiti entfernt hat und
Erfolge feiert.
"Es ist egal, woher du kommst, es zählt nur, was du machst"
Was hat es nun mit dieser "Family" auf sich? Sie ist so etwas wie ein
Netzwerk, das Gleichgesinnte miteinander verbindet. Man soll
zusammenstehen, sich gegenseitig stark machen - und dies mit einem Set von
Regeln und Normen, in denen sich die Mitglieder zu Hause fühlen können -
wie in einer Familie eben.
Ein Jam wird als gut empfunden, wenn man sich "wie
in einer Familie" vorkommen konnte. Zwischen Auftretenden und
Jam-Besuchern sollte so wenig wie möglich Distanz sein. Die Einheit mit
Gleichgesinnten in der ganzen Welt ist für viele ein berauschendes Gefühl.
Mickey Laze: "Man lernt so viele Leute kennen, es ist egal, woher du
kommst, es zählt nur, was du machst. Du bist nicht allein. Wow! Da bekomme
ich richtig Gänsehaut."
Gerne sehen Gesellschaftswissenschaftler die Hip-Hop-Family als Ersatz der
biologischen Familie an, des zerrütteten Elternhauses (u.a.FISCHLI 1994).
Ihre Annahme kann, besonders in den Anfangszeiten, zugetroffen haben (siehe
Interview mit Kron).
Ich finde, man darf die Wortwahl aber nicht
überinterpretieren. Solche "Ersatzfamilien" sind etwas Gewöhnliches. Vereine
bezeichnen sich gerne als zweites Zuhause. Niemandem würde einfallen, die
Mitgliedschaft in einem Sportverein auf die Existenz einer zerrütteten Familie
zurückzuführen. Der Mensch ist ein soziales Wesen, und jeder schliesst sich
der Gruppe an, in der er sich wohl fühlt und verwirklichen kann.
Viele Hip-Hop-Künstler, mit denen ich redete, waren sogenannte Secundos. In Wissenschaft und Medien werden diese
Leute stigmatisiert, da "Secundos" per Definition "gespalten zwischen zwei
Kulturen" sind und somit im ständigen Konflikt mit sich selbst und ihrer
Umwelt.
Im Hip-Hop-Universum werden Individuen nicht durch ihre Herkunft
oder Schichtzugehörigkeit definiert. Hip-Hop ist eine globale, transnationale
Bewegung, in der nur die Identifikation mit der Hip-Hop-Kultur und ihren
Werten ausschlaggebend für die Mitgliedschaft ist. Hier merkt man, dass der
Status als "Secundo" gar nichts Negatives ist - im Gegenteil: "Secundos"
nutzen ihre gemischte Herkunft und gehen spielerisch damit um. Wie mir
Black Tiger sagte, haben sogar manche von ihnen Komplexe, wenn sie nur
Schweizer oder nur Deutsche sind.
Welche Bedeutung Nationalität im Alltag spielt, konnte ich nur ansatzweise
untersuchen. Mir ist aufgefallen, dass zwar auch hier Spanier viel mit
Spaniern, Türken viel mit Türken unterwegs sind. Alle Befragte haben durch
den bunten Mix an Nationalitäten in der Basler Hip-Hop-Szene und durch ihre
Reisen jedoch einen internationalen Freundeskreis. Auf Jams sieht man
auffallend viele gemischte Paare. Hip-Hop-Crews bestehen nicht selten aus
genauso vielen Nationalitäten wie Mitgliedern. Hip-Hopper sind
sprachgewandt, viele wechseln mühelos von Mundart auf Französisch, Englisch
und Italienisch.
Immer wieder musste ich an einen Satz von DJ El-Q denken, den er mir zu
Beginn auf den Weg gegeben hatte. "Nationalität ist wichtig und doch nicht
wichtig." Jetzt glaube ich, ihn zu verstehen. Unwichtig ist Nationalität im
Umgang untereinander (Spain Kid: "Danach fragt man nur aus Höflichkeit").
Wichtig ist sie für sie selber, das sieht man an ihren Namen wie Spain Kid oder
Black Tiger (black spielt auf Hautfarbe seiner Mutter an) oder man merkt es
an der Sprache der Raps: sie gibt es auf griechisch, französisch, spanisch oder
baseldeutsch. In Graffitis experimentiert Tarek mit arabischer Schrift, Puccio
mischt unter seine Beats sizilianische Klänge.
Nationalität ersetzen wir hier
besser mit Selbst-Identifizierung. Der Grossteil der Hip-Hopper ist in der
Schweiz aufgewachsen, Baseldeutsch ist für viele ihre Muttersprache.
Hip-Hop ist gleichzeitig global orientiert und lokal verankert. Hip-Hopper
vertreten auf auswärtigen Jams ihre Stadt. Raps erzählen von ihrem Alltag, ob
von gemeinsamen Fahrten in der Waldenburgbahn oder von
Verfolgungsszenen der Sprüher am Bahnhof SBB. Und: In welcher
Musiksparte ausser der Volksmusik (und Berndeutsch-Rock) ist Mundart so
verbreitet wie im Hip-Hop-Rap?
"Eine Therapie für alle"
Die portraitierten Hip-Hop-Künstler haben sich mit den Widersprüchen
arrangiert und ihren Weg gefunden, Hip-Hop zu leben. Das Leben in der
Hip-Hop-Community hat ihnen einen Wissens- und Erfahrungsschatz
verliehen, der bedeutend grösser ist als der von vielen anderen jungen Leuten.
In den vorangehenden Kapiteln ist deutlich geworden, dass das Rappen,
Tanzen, Sprühen oder DJ-ing für die Aktiven keine Freizeitbeschäftigung ist
wie für andere Joggen oder Kegeln. Für sie ist Hip-Hop eine
Lebenseinstellung, ihr "way of life", ihre Art, sich auszudrücken, sich anderen
mitzuteilen, Anerkennung zu ernten.
Man kann Hip-Hop wie Black Tiger als eine Art Therapie zur
Selbstentwicklung ansehen. Ob nun auf charakterlicher oder künstlerischer
Ebene. Jeder arbeitet intensiv an sich, es braucht nicht nur Talent, sondern
auch Fleiss - ein langer Weg. Im Hip-Hop reflektiert man, was man macht.
"Man fragt sich, wer bin ich? Woher komme ich?" Man wird kritischer,
schaut, was für einen gut ist. Das lernt man durch diese Auseinandersetzung
mit sich und den Lebenswelten anderer.
Hip-Hop ist wahrscheinlich die am buntesten vermischte
Jugendkultur-Bewegung, die es gibt. Früher waren nur Ausländer aktiv, jetzt
sind auch viele Schweizer und Doppelbürger, Leute aus der Mittelschicht und
immer mehr Frauen vertreten (die aktive B-Girl-Szene in der Schweiz wird
besonders von Deutschen positiv hervorgehoben).
Der Austausch beschränkt sich nicht auf Basel. In Raps hört man Geschichten
vom Leben anderer Rapper auf der ganzen Welt, lernt ihre Städte, ihre
Gedanken kennen, da viele von sich und ihrem Quartier und ihrer Stadt
rappen. Die meisten Hip-Hopper sind regelmässig unterwegs in ganz Europa,
in den USA oder sogar mal in Japan, sie haben Kontakt zu den
Hip-Hop-Szenen in der ganzen Welt. Kron ist regelmässig in Paris und arbeitet
dort in mehreren Crews. Städte, erzählte er, lernen sie nicht wie Touristen
kennen, sondern durch ihre Kontakte wie Einheimische. "Man lebt in ihnen."
Hip-Hop ist kreatives Schaffen, Unterhaltung und Bildung ("Edutainment")
gleichzeitig. Schon als 13jähriger schrieb Puccio einen Rap mit dem Titel "Go
for PLO" über das Verhältnis von Palästinensern und Israelis. Angeregt hat
ihn sein Freund und Hip-Hop-Kollege Tarek, dessen Vater aus dem
Gaza-Streifen stammt.
Viele Hip-Hop-Künstler wollen mit ihrer Arbeit
unterhalten und zum Denken anregen (moralisieren ist verpönt!)
Manchmal bringen sie ihre Messages unverblümt direkt ans Volk (mit Texten,
die sie mir nicht zur Veröffentlichung geben wollten...), manchmal lieber
verpackt in ausgefeilten Rhymes, in poetischer Sprache, in surrealistischen
Bildern (man denke an Tareks gelb-violette Bäume) oder Bewegungen
(Cozkun: "Ich sage es nicht, ich tanze es").
Hip-Hop kann sozialkritisch und politisch sein. Das wird deutlich in Graffitis
mit Messages wie "Stop The Violence", während Aktionen gegen Drogen und
natürlich in Raptexten. Hip-Hop in Basel, das sind viele unterschiedliche
Individuuen, die ihr Ding machen. Sie vereint Kreativität und der Wille, etwas
aus ihrem Leben zu machen.