Eine Forschungsarbeit soll im Idealfall nicht nur neues Fachwissen anhäufen,
sondern auch zur Theoriediskussion beitragen. Deshalb zum Schluss noch ein
paar Gedanken über mögliche Folgerungen für Ethnologie und Jugendpolitik.
Mehr Freiraum!
Jugendkultur ist abhängig von gesellschaftlichen und politischen
Rahmenbedingungen. Das Universum, das die Hip-Hopper aufgebaut haben,
existiert nicht autonom vor sich hin. Black Tiger bleibt realistisch: "Anarchie
gibt es nicht. Man baut sich immer wieder ins System ein." Hip-Hopper
fordern nicht, sie packen selbst an, machen ihr Ding. Die meisten identifizieren
sich mit ihrer Stadt und fühlen sich mehr oder weniger wohl in Basel. Was
jedoch von allen bemängelt wird, ist das Fehlen von Räumlichkeiten. Oft fehlt
auch Geld für Projekte.
"Viele Talente liegen brach", bemängeln Kalmoo und
Black Tiger. Nur wer die Kraft und die notwendige Hartnäckigkeit dazu hat,
kann etwas aus sich machen, die andern bleiben auf der Strecke. Black Tiger:
"Es ist extrem wichtig, dass es für Hip-Hop ein eigenes Studio gibt, und
gerade auch Jüngeren zur Verfügung steht, für Leute, die nicht so viel
Geld haben. (...) Viele Leute haben Ideen für Projekte. Sie müssen erst
mal Geld zusammen sparen, um nicht abhängig zu sein von Leuten, die
die Infrastruktur haben. (...) Was fehlt, sind gute Räumlichkeiten. Ein
Freiraum. Etwas, das die Leute von der Strasse holt."
Räume und Treffpunkte sind für Jugendliche, die noch nicht alt genug sind
oder nicht das Geld haben, aus dem Elternhaus auszuziehen, besonders
wichtig. Nicht alle haben Lust, die Freizeit mit ihren Eltern zu verbringen. Wo
sollen sie sich mit ihren Kolleginnen und Kollegen treffen? In Beizen
abzumachen, wird auf die Dauer zu teuer. Wo sollen sie ihren Interessen
nachgehen können, Graffiti-Skizzen anfertigen, Scratchen und rappen üben,
Breakdance-Figuren einstudieren?
Viele Hip-Hopper träumen von eigenen Studios oder Ateliers, für manche von
ihnen ist der Traum wahr geworden. Doch was ist mit den anderen? Für viele
ist einer der fünf Jugendtreffpunkte der Basler Freizeitaktion (BFA) der letzte
Ausweg. Diese sind aber nicht immer offen, wenn man sie braucht. Einige
Mädchen scheuen sich dahin zu gehen, weil es fast nur Jungs dort hat.
Hartnäckig hält sich das Vorurteil, diese Jugis seien nur für Jugendliche aus
kaputten Familien da. Die BFA bemüht sich, das Angebot zu verbessern, unter
anderem durch Mädchenarbeit. Neben dem Treffleiter engagieren sie bewusst
eine Praktikantin (SITEK 1999). Die BFA steht aber unter finanziellem Druck:
Auch Sozialarbeit soll sich lohnen.
Es gibt ein Jugi, in dem die meisten Aktiven der Hip-Hop-Szene quasi
aufgewachsen sind: das Jugi Gundeli hinter dem Bahnhof SBB. Die neuere
Geschichte dieses Treffs zeigt exemplarisch auf, welch Bedeutung Raum für
die Jugendlichen hat und wie junge Leute die Wahrnehmung ihrer Interessen
durch die Stadtverwaltung sehen.
Es ist einer der beliebtesten Treffs in Basel.
Kein Wunder: Sozialarbeiter Antonio Gabl feiert mit ihnen Parties, kocht,
unternimmt Ausflüge und hört ihnen zu, wenn sie Stress mit ihren Eltern haben.
Hier können junge Leute unter sich sein, es hat keine Nachbarn, der grosse
Aussenplatz mit Skater-Rampen und Basketball-Körben zieht sogar Leute aus
dem benachbarten Südbaden und Elsass an.
Viele sind Stammgäste und wüssten nicht, wohin sie sonst sollten: Spain Kid,
der hier jeden Tag stundenlang trainiert oder Fidon, ein 14jähriger Albaner,
der immer nach der Schule herkommt: "In eine Beiz zu sitzen habe ich keine
Lust", sagt er, am Flipperkasten stehend. Ich war mehrmals dort, um
Interviews zu führen. Egal, mit wem ich redete, bald folgte die Bemerkung
"Jaja, aber im Sommer (1999) wird das Jugi eh abgerissen."
Im Rahmen der Neugestaltung des Bahnhof SBB hatte der Kanton eine
Zugangsstrasse geplant, die quer über das Gelände der Jugi führen sollte.
Antonio Gabl hat schon seit vier Jahren gegen die Strasse gekämpft. "Der
Bau der Strasse würde der Verlust des besten Hauses für die Jugend Basels
bedeuten", sagt er. Wo gibt es sonst eine so grosse Aussenfläche? Reduziere
man sie, so Gabl, vergrössere man das Gewaltpotential. "Für die Folgen
möchte ich keine Verantwortung übernehmen." Mir gegenüber betonte die
Vorsteherin des Baudepartements, SP-Regierungsrätin Barbara Schneider, sie
sei am Erhalt des Jugis interessiert. Die Jugendlichen jedoch, so sagte mir
Kron, hätten keine Hoffnung mehr. "Wir sitzen eh am kürzeren Hebel" .
Wie sehr es an Freiraum in der Stadt fehlt, wurde auch im
Stadtentwicklungsprojekt "Werkstadt Basel" deutlich. In mehreren
Innovations- und Konsenskonferenzen sammelten Bewohnerinnen und
Bewohner Ideen für eine lebenswertere Stadt. Neue Quartier- und
Jugend-Treffpunkte waren eine der am häufigsten genannten
Projektvorschläge - ob nun von Erwachsenen oder von Jugendlichen. Es gibt
zahlreiche Ideen von Jugendlichen, wie Treffpunkte zu organisieren und zu
gestalten sind (nachzulesen im Internet unter www.werkstadt-basel.ch).
Nihilismus! Und eine neue kopernikanische Revolution!
Gesellschaftliche Fronten, den Eindruck bekommt man immer wieder,
verlaufen vor allem zwischen Jung und Alt. An dieser These ist sicher etwas
dran. "Alter" ist in vielen Gesellschaften auf der ganzen Welt eine relevante
Kategorie. "Alter" ist sogar mit "Geschlecht" oft ein wichtigeres Kriterium
für soziale Schichtung als Klasse, Kaste und Ethnizität (ERIKSEN 1993:147).
Konflikt zwischen Jung und Alt gibt es überall auf der Welt. Mir kommt er vor
wie ein klassischer Kulturkonflikt: Die Kommunikation stimmt nicht, man
redet aneinander vorbei. Verschiedene Wertesysteme kollidieren miteinander.
Das Problem liegt meiner Meinung nach jedoch tiefer begraben. Es drückt sich
lediglich via "Alter" aus. Es ist dasselbe Problem, das auch im Umgang mit
"Ausländern" zutage tritt - die Wahrnehmung und der Umgang mit
"Anderem", mit "Fremdem": Wie gehe ich mit Leuten um, die "anders" sind,
mit Ideen, die "unkonventionell" sind? Was empfinde ich unter "anders"?
Sehe ich "Andersartigkeit" als Bedrohung oder sehe ich es als
Herausforderung? Blocke ich es ab oder zieht es mich an?
Junge Leute sind
neu in der Gesellschaft, und wie viele, die zum Beispiel einen neuen Job
anfangen oder in eine neue Stadt kommen, stellen sie Fragen wie: "Warum ist
das hier so? Kann man das nicht anders machen?"
Für Leute, die schon lange mit dabei sind, bringt eine solche Frage, die Welt
durcheinander. "Also, wir haben das schon immer so gemacht. Da könnte ja
jeder kommen." Mickey Laze: "Die Schweizer haben Angst vor Neuem."
Das Problem: Erwachsene und Jugendliche gehen oft nur von sich aus,
betrachten ihre Ansichten als Mass aller Dinge. Erwachsene bestimmen, was
richtig, was falsch, was gute Musik und gute Freizeitbeschäftigungen sind. Sie
verurteilen Hip-Hop und kriminalisieren Sprüher, ohne sich mit der Materie
beschäftigt zu haben. Jugendliche distanzieren sich von der Erwachsenenwelt,
gehen nicht auf Kompromissangebote ein: Erwachsenen, das haben sie oft
erlebt, kann man nicht trauen.
Man denke an Krons schlechte Erfahrungen mit
der Stadt, als sie den Sprühern für wenige Tage legale Flächen gab und es
dann vor Polizisten nur so wimmelte.
Solche Erfahrungen schlagen sich nieder in Diskussionen wie im
Sommercasino zum Thema Graffiti, die von der BFA organisiert wurde.
Bekannte Argumente für und gegen Graffiti wurden ausgetauscht. "Der Abend
bringt eh nichts", sagte mir Kron. Danach schrieb ich in mein Tagebuch: "Das
eigentliche Problem kam nicht zur Sprache: Dass Jugendliche nicht akzeptiert
werden, wenn sie sich mit Sachen beschäftigen, die die Erwachsenen nicht
kennen."
Pierre Clastres (1971) schrieb in einem seiner Essays der Sammlung
"Staatsfeinde", in unserem Denken über Fremde bräuchten wir eine neue
kopernikanische Revolution. Kopernikus hatte herausgefunden, dass die Erde
nicht Zentrum, sondern nur ein Teil des Universums ist. Clastres kritisierte,
dass wir die Fremden um uns, den angenommenen Mittelpunkt des
Universums, kreisen liessen.
Eine kopernikanische Revolution brauchen wir,
finde ich, auch in Jugendpolitik und Ethnologie. Wir müssen wegkommen von
der Erwachsenen-Zentriertheit. Weder Erwachsene noch Jugendliche sind der
Mittelpunkt, wir alle sind Teile einer Welt, die aus verschiedenen Individuen
besteht. Wir müssen Begriffe und Theorien immer wieder neu testen: Stimmen
sie noch?
Ich finde, der Wissenschaft täte eine Art von Nihilismus gut, wie ihn der
norwegische Schriftsteller Jens Bjørneboe forderte. Mit Nihilismus meinte er
"eine filosofische Richtung, die sich weigert, vererbte, weitergegebene und
konventionelle Wahrheiten anzuerkennen, bevor man selbst deren
Wahrheitsgehalt untersucht hat" (BJÖRNEBOE 1971/1989:157).
Ich denke
vor allem an drei Begriffe: (1) Jugend, (2) Kultur, (3) Secundos.
Jugend
Was oder wer ist das überhaupt? Ist der Begriff wichtig? Sagt er etwas aus?
Wieso benutzen wir ihn? Jugendkultur, Jugendgewalt - reden wir auch von
Erwachsenenkultur und Erwachsengewalt? Warum nicht? Wer gehört
überhaupt zur Jugend, wer nicht und warum?
Ich habe in der Arbeit vorgezogen, von jungen Leuten zu reden, und damit
meinte ich Leute, die sich jung fühlen oder von anderen als jung angesehen
werden. Die Jugend gibt es nicht, das sieht man gut, vergleicht man mal wieder
Toni Brunner von der SVP mit Ursula Wyss von der SP.
Beide wurden sie vom Schweizer Fernsehen als jüngste Nationalräte
portraitiert. Ursula, ungeschminkt, in einfachem Pulli und fliegenden Locken,
gibt sich kämpferisch, will die Anliegen von Jugendlichen und jungen Müttern
vertreten. Toni erscheint korrekt in Anzug und Krawatte und redet von
Verantwortung für Tradition und Landwirtschaft.
Wir müssen fort kommen von der Definition des Jugendlichen als den
Suchenden, Unfertigen, der noch nicht sein Bestes weiss. Viele Studien
produzieren vorhersehbare Ergebnisse, weil sie nur das Eine interessiert:
"Jugendliche auf der Suche nach ihrer Identität". Warum immer nur diese
Negativ-Definitionen? Sind nicht viele Erwachsene noch auf der Suche?
Warum nicht positiver: Jugend = eine Phase, wo man besonders spontan,
flexibel, ideenreich, kreativ ist, offen für Neues. Und Erwachsensein = eine
Phase, wo man in feste Bahnen kommt, bünzlig wird, faul und träge und
skeptisch gegenüber Neuem. Jugendliche sind es, die Gesellschaft verändern,
man denke an die 68er-Bewegung oder an die "Grünen".
Jugendliche, das sind Individuen mit ganz unterschiedlichen Interessen,
Neigungen und Fähigkeiten, die etwas aus ihrem Leben machen wollen. So
sollten sie in Forschung und Politik behandelt werden.
Kultur
Ein weiterer Grund, weshalb junge Leute in Forschung (oder auch Politik etc.)
nicht ernst genommen werden, ist die Vorstellung einer homogenen
(National-)Kultur, zu der sich junge Leute hin zu entwickeln hätten.
Fälschlicherweise nehmen viele Leute an, es bestünde Einigkeit darüber, was
zum Beispiel typisch schweizerisch oder baslerisch (deutsch, türkisch,
indianisch etc) sei. Die Chancen sind (noch?) nicht besonders gross, dass in
einer touristischen Fernsehsendung (oder ethnografischen Abhandlung) über
Basel die "Line", diese kilometerlange Aneinanderreihung von
Graffiti-Kunstwerken in der Einfahrt zum Bahnhof SBB, gezeigt wird, eher das
Münster, der Rhein, die Fasnacht.
Jede Gesellschaft besteht aus mehreren kulturellen Traditionen. Zwischen
ihnen wird ständig ausgehandelt, was nun das ist, was "unsere Kultur" genannt
wird. Die Definitionsfrage ist immer auch eine Machtfrage, und da junge Leute
weniger Macht haben, werden sie weniger gehört und werden auch weniger in
Forschungen repräsentiert.
Arild Hovland (1996) ging diesem Problem in seiner Forschung über samische
Jugendliche in Nordnorwegen nach. Er zeigt in seinem Buch auf, wie
unterschiedlich samische Jugendliche und Erwachsene über ihre Rolle als
Samen denken und welche Konflikte daraus resultieren: Muss ein(e) Sami
Rentiere haben? Darf er oder sie auf eine House-Party gehen? Viele junge
Sami leiden unter dem unter städtischen Intellektuellen so verbreitetem
Postulat, junge Leute sollten "die samische Kultur und Tradition
weiterführen", denn es sei ja so schade, wenn sie "ihre Kultur und Identität
verlieren" würden.
Auch viele junge Leute mit ausländischen Eltern, die aber in der Schweiz
aufgewachsen sind, haben unter diesem Problem zu leiden. Sie werden
"2.Generations-Ausländer" oder "Secundos" genannt, mein dritter Begriff.
Secundos
Ihre Eltern hätten gerne, dass sie so leben "wie ein guter Türke" oder "wie
eine gute Italienerin". Sie sind jedoch hier aufgewachsen und möchten ihr
eigenes Ding machen. Türken schicken ihre Kinder in Sonntagsschulen, damit
sie "ihre Identität kennenlernen", wie ein türkischer Konsul sich mal
ausdrückte. Die hiesigen Behörden nehmen Partei für die Eltern, denn es geht
ja darum, "die Kultur der Einwanderer zu bewahren", und das ist ja im Sinne
des politisch korrekten Multikulturalismus.
Basels deutsche Nachbarstadt Lörrach veranstaltete vor ein paar Jahren eine
gut gemeinte Veranstaltungsreihe unter dem Titel "Zwischen zwei Welten -
türkisches Leben in Lörrach". Ich besuchte eine Veranstaltung über
türkisches Essen. Junge Türkinnen kochten und boten Kostproben an. Ich
fragte sie, ob sie das Essen selber auch kochen und essen würden. Nix da! Sie
essen am liebsten italienisch oder chinesisch und kochten das zum ersten Mal.
Man gesteht diesen "Secundos" nicht zu, dass sie etwas Neues, etwas
Eigenständiges sind und nicht nur die Kopien ihrer Eltern. In der Wissenschaft
wird diese Gruppe nicht besser behandelt. Für viele Forscher steht im
vornherein fest, dass ihr Status als "Secundo" etwas Negatives ist. Secundos
haben per Definition ein Problem mit ihrer Identität. Sie sind nämlich, meinen
die Wissenschaftler, "hin- und hergerissen zwischen beiden Kulturen": der
ihrer Eltern und der des Landes, in dem sie jetzt wohnen. Dies wird so oft
wiederholt, dass die "Secundos" am Schluss wirklich glauben, mit ihnen
stimme etwas nicht.
Viele der Hip-Hopper sind "Secundos", viele hatten in der Tat Mühe mit ihrer
"Identität", doch dies in erster Linie, weil es von der Öffentlichkeit zu einem
Problem gestempelt wurde. Unni Wikan (1995) beschäftigt sich in einem Buch
über Einwanderung mit dem Thema. Sie liefert ein eindrückliches Beispiel.
Ein elfjähriger Junge hatte Eltern, die, seit er fünf war, geschieden
waren, aber er hatte ein ausgezeichnetes Verhältnis zu beiden. Eines
Tages veranstaltete seine Schule einen Thema-Tag über
Scheidungskinder. Nach dieser Veranstaltung kam der Junge heim zu
seinem Vater und sagte: "Du Papa, bin ich ein Scheidungskind?"
(WIKAN 1995:57).
ACE mochte meine Frage, ob er sich nun türkisch oder schweizerisch fühle,
nicht besonders: "Die Frage setzt mir Grenzen." Er sieht sich selbst als etwas
"Undefinierbares", Eigenständiges, das sich nicht mit Nationalität beschreiben
lässt.
Tarek hat mit zunehmenden Alter eingesehen, dass "Arabisch",
"Deutsch" und "Schweizerisch" keine unüberbrückbare Gegensätze sind.
Jetzt nutzt er seinen gemischten Hintergrund bewusst, kombiniert, ist stolz
darauf.
Puccio geht "das Gerede von Staat und Identität" auch auf den Geist.
Es mache die Leute dumm, findet er, verstelle den Blick auf Wichtigeres. In
mehreren Gesprächen drücken Hip-Hop-Künstler ihre Abneigung gegenüber
Grenzen aus, erzählen davon, wie sie sie in ihrer Entfaltung hindern.
Genauso wie "Schicht" müssen wir "Herkunft" neu definieren. Die Begriffe
dürfen nicht länger allein an den Eltern festgemacht werden. Eins sind Basels
Hip-Hopper auf jeden Fall: waschechte Basler. Und vor allem sich selbst!