Kapitel 5:

Verstehen. Das Resumée

Teil 2: Hip-Hop und Jugendpolitik

Eine Forschungsarbeit soll im Idealfall nicht nur neues Fachwissen anhäufen, sondern auch zur Theoriediskussion beitragen. Deshalb zum Schluss noch ein paar Gedanken über mögliche Folgerungen für Ethnologie und Jugendpolitik.

Mehr Freiraum!

Jugendkultur ist abhängig von gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen. Das Universum, das die Hip-Hopper aufgebaut haben, existiert nicht autonom vor sich hin. Black Tiger bleibt realistisch: "Anarchie gibt es nicht. Man baut sich immer wieder ins System ein." Hip-Hopper fordern nicht, sie packen selbst an, machen ihr Ding. Die meisten identifizieren sich mit ihrer Stadt und fühlen sich mehr oder weniger wohl in Basel. Was jedoch von allen bemängelt wird, ist das Fehlen von Räumlichkeiten. Oft fehlt auch Geld für Projekte.

"Viele Talente liegen brach", bemängeln Kalmoo und Black Tiger. Nur wer die Kraft und die notwendige Hartnäckigkeit dazu hat, kann etwas aus sich machen, die andern bleiben auf der Strecke. Black Tiger:


Räume und Treffpunkte sind für Jugendliche, die noch nicht alt genug sind oder nicht das Geld haben, aus dem Elternhaus auszuziehen, besonders wichtig. Nicht alle haben Lust, die Freizeit mit ihren Eltern zu verbringen. Wo sollen sie sich mit ihren Kolleginnen und Kollegen treffen? In Beizen abzumachen, wird auf die Dauer zu teuer. Wo sollen sie ihren Interessen nachgehen können, Graffiti-Skizzen anfertigen, Scratchen und rappen üben, Breakdance-Figuren einstudieren?

Viele Hip-Hopper träumen von eigenen Studios oder Ateliers, für manche von ihnen ist der Traum wahr geworden. Doch was ist mit den anderen? Für viele ist einer der fünf Jugendtreffpunkte der Basler Freizeitaktion (BFA) der letzte Ausweg. Diese sind aber nicht immer offen, wenn man sie braucht. Einige Mädchen scheuen sich dahin zu gehen, weil es fast nur Jungs dort hat. Hartnäckig hält sich das Vorurteil, diese Jugis seien nur für Jugendliche aus kaputten Familien da. Die BFA bemüht sich, das Angebot zu verbessern, unter anderem durch Mädchenarbeit. Neben dem Treffleiter engagieren sie bewusst eine Praktikantin (SITEK 1999). Die BFA steht aber unter finanziellem Druck: Auch Sozialarbeit soll sich lohnen.

Es gibt ein Jugi, in dem die meisten Aktiven der Hip-Hop-Szene quasi aufgewachsen sind: das Jugi Gundeli hinter dem Bahnhof SBB. Die neuere Geschichte dieses Treffs zeigt exemplarisch auf, welch Bedeutung Raum für die Jugendlichen hat und wie junge Leute die Wahrnehmung ihrer Interessen durch die Stadtverwaltung sehen.

Es ist einer der beliebtesten Treffs in Basel. Kein Wunder: Sozialarbeiter Antonio Gabl feiert mit ihnen Parties, kocht, unternimmt Ausflüge und hört ihnen zu, wenn sie Stress mit ihren Eltern haben. Hier können junge Leute unter sich sein, es hat keine Nachbarn, der grosse Aussenplatz mit Skater-Rampen und Basketball-Körben zieht sogar Leute aus dem benachbarten Südbaden und Elsass an.

Viele sind Stammgäste und wüssten nicht, wohin sie sonst sollten: Spain Kid, der hier jeden Tag stundenlang trainiert oder Fidon, ein 14jähriger Albaner, der immer nach der Schule herkommt: "In eine Beiz zu sitzen habe ich keine Lust", sagt er, am Flipperkasten stehend. Ich war mehrmals dort, um Interviews zu führen. Egal, mit wem ich redete, bald folgte die Bemerkung "Jaja, aber im Sommer (1999) wird das Jugi eh abgerissen."

Im Rahmen der Neugestaltung des Bahnhof SBB hatte der Kanton eine Zugangsstrasse geplant, die quer über das Gelände der Jugi führen sollte. Antonio Gabl hat schon seit vier Jahren gegen die Strasse gekämpft. "Der Bau der Strasse würde der Verlust des besten Hauses für die Jugend Basels bedeuten", sagt er. Wo gibt es sonst eine so grosse Aussenfläche? Reduziere man sie, so Gabl, vergrössere man das Gewaltpotential. "Für die Folgen möchte ich keine Verantwortung übernehmen." Mir gegenüber betonte die Vorsteherin des Baudepartements, SP-Regierungsrätin Barbara Schneider, sie sei am Erhalt des Jugis interessiert. Die Jugendlichen jedoch, so sagte mir Kron, hätten keine Hoffnung mehr. "Wir sitzen eh am kürzeren Hebel" .

Wie sehr es an Freiraum in der Stadt fehlt, wurde auch im Stadtentwicklungsprojekt "Werkstadt Basel" deutlich. In mehreren Innovations- und Konsenskonferenzen sammelten Bewohnerinnen und Bewohner Ideen für eine lebenswertere Stadt. Neue Quartier- und Jugend-Treffpunkte waren eine der am häufigsten genannten Projektvorschläge - ob nun von Erwachsenen oder von Jugendlichen. Es gibt zahlreiche Ideen von Jugendlichen, wie Treffpunkte zu organisieren und zu gestalten sind (nachzulesen im Internet unter www.werkstadt-basel.ch).

Nihilismus! Und eine neue kopernikanische Revolution!

Gesellschaftliche Fronten, den Eindruck bekommt man immer wieder, verlaufen vor allem zwischen Jung und Alt. An dieser These ist sicher etwas dran. "Alter" ist in vielen Gesellschaften auf der ganzen Welt eine relevante Kategorie. "Alter" ist sogar mit "Geschlecht" oft ein wichtigeres Kriterium für soziale Schichtung als Klasse, Kaste und Ethnizität (ERIKSEN 1993:147). Konflikt zwischen Jung und Alt gibt es überall auf der Welt. Mir kommt er vor wie ein klassischer Kulturkonflikt: Die Kommunikation stimmt nicht, man redet aneinander vorbei. Verschiedene Wertesysteme kollidieren miteinander.

Das Problem liegt meiner Meinung nach jedoch tiefer begraben. Es drückt sich lediglich via "Alter" aus. Es ist dasselbe Problem, das auch im Umgang mit "Ausländern" zutage tritt - die Wahrnehmung und der Umgang mit "Anderem", mit "Fremdem": Wie gehe ich mit Leuten um, die "anders" sind, mit Ideen, die "unkonventionell" sind? Was empfinde ich unter "anders"? Sehe ich "Andersartigkeit" als Bedrohung oder sehe ich es als Herausforderung? Blocke ich es ab oder zieht es mich an?

Junge Leute sind neu in der Gesellschaft, und wie viele, die zum Beispiel einen neuen Job anfangen oder in eine neue Stadt kommen, stellen sie Fragen wie: "Warum ist das hier so? Kann man das nicht anders machen?" Für Leute, die schon lange mit dabei sind, bringt eine solche Frage, die Welt durcheinander. "Also, wir haben das schon immer so gemacht. Da könnte ja jeder kommen." Mickey Laze: "Die Schweizer haben Angst vor Neuem."

Das Problem: Erwachsene und Jugendliche gehen oft nur von sich aus, betrachten ihre Ansichten als Mass aller Dinge. Erwachsene bestimmen, was richtig, was falsch, was gute Musik und gute Freizeitbeschäftigungen sind. Sie verurteilen Hip-Hop und kriminalisieren Sprüher, ohne sich mit der Materie beschäftigt zu haben. Jugendliche distanzieren sich von der Erwachsenenwelt, gehen nicht auf Kompromissangebote ein: Erwachsenen, das haben sie oft erlebt, kann man nicht trauen.

Man denke an Krons schlechte Erfahrungen mit der Stadt, als sie den Sprühern für wenige Tage legale Flächen gab und es dann vor Polizisten nur so wimmelte. Solche Erfahrungen schlagen sich nieder in Diskussionen wie im Sommercasino zum Thema Graffiti, die von der BFA organisiert wurde. Bekannte Argumente für und gegen Graffiti wurden ausgetauscht. "Der Abend bringt eh nichts", sagte mir Kron. Danach schrieb ich in mein Tagebuch: "Das eigentliche Problem kam nicht zur Sprache: Dass Jugendliche nicht akzeptiert werden, wenn sie sich mit Sachen beschäftigen, die die Erwachsenen nicht kennen."

Pierre Clastres (1971) schrieb in einem seiner Essays der Sammlung "Staatsfeinde", in unserem Denken über Fremde bräuchten wir eine neue kopernikanische Revolution. Kopernikus hatte herausgefunden, dass die Erde nicht Zentrum, sondern nur ein Teil des Universums ist. Clastres kritisierte, dass wir die Fremden um uns, den angenommenen Mittelpunkt des Universums, kreisen liessen.

Eine kopernikanische Revolution brauchen wir, finde ich, auch in Jugendpolitik und Ethnologie. Wir müssen wegkommen von der Erwachsenen-Zentriertheit. Weder Erwachsene noch Jugendliche sind der Mittelpunkt, wir alle sind Teile einer Welt, die aus verschiedenen Individuen besteht. Wir müssen Begriffe und Theorien immer wieder neu testen: Stimmen sie noch?

Ich finde, der Wissenschaft täte eine Art von Nihilismus gut, wie ihn der norwegische Schriftsteller Jens Bjørneboe forderte. Mit Nihilismus meinte er "eine filosofische Richtung, die sich weigert, vererbte, weitergegebene und konventionelle Wahrheiten anzuerkennen, bevor man selbst deren Wahrheitsgehalt untersucht hat" (BJÖRNEBOE 1971/1989:157).

Ich denke vor allem an drei Begriffe: (1) Jugend, (2) Kultur, (3) Secundos.


Jugend

Was oder wer ist das überhaupt? Ist der Begriff wichtig? Sagt er etwas aus? Wieso benutzen wir ihn? Jugendkultur, Jugendgewalt - reden wir auch von Erwachsenenkultur und Erwachsengewalt? Warum nicht? Wer gehört überhaupt zur Jugend, wer nicht und warum?

Ich habe in der Arbeit vorgezogen, von jungen Leuten zu reden, und damit meinte ich Leute, die sich jung fühlen oder von anderen als jung angesehen werden. Die Jugend gibt es nicht, das sieht man gut, vergleicht man mal wieder Toni Brunner von der SVP mit Ursula Wyss von der SP.

Beide wurden sie vom Schweizer Fernsehen als jüngste Nationalräte portraitiert. Ursula, ungeschminkt, in einfachem Pulli und fliegenden Locken, gibt sich kämpferisch, will die Anliegen von Jugendlichen und jungen Müttern vertreten. Toni erscheint korrekt in Anzug und Krawatte und redet von Verantwortung für Tradition und Landwirtschaft.

Wir müssen fort kommen von der Definition des Jugendlichen als den Suchenden, Unfertigen, der noch nicht sein Bestes weiss. Viele Studien produzieren vorhersehbare Ergebnisse, weil sie nur das Eine interessiert: "Jugendliche auf der Suche nach ihrer Identität". Warum immer nur diese Negativ-Definitionen? Sind nicht viele Erwachsene noch auf der Suche? Warum nicht positiver: Jugend = eine Phase, wo man besonders spontan, flexibel, ideenreich, kreativ ist, offen für Neues. Und Erwachsensein = eine Phase, wo man in feste Bahnen kommt, bünzlig wird, faul und träge und skeptisch gegenüber Neuem. Jugendliche sind es, die Gesellschaft verändern, man denke an die 68er-Bewegung oder an die "Grünen".

Jugendliche, das sind Individuen mit ganz unterschiedlichen Interessen, Neigungen und Fähigkeiten, die etwas aus ihrem Leben machen wollen. So sollten sie in Forschung und Politik behandelt werden.


Kultur

Ein weiterer Grund, weshalb junge Leute in Forschung (oder auch Politik etc.) nicht ernst genommen werden, ist die Vorstellung einer homogenen (National-)Kultur, zu der sich junge Leute hin zu entwickeln hätten. Fälschlicherweise nehmen viele Leute an, es bestünde Einigkeit darüber, was zum Beispiel typisch schweizerisch oder baslerisch (deutsch, türkisch, indianisch etc) sei. Die Chancen sind (noch?) nicht besonders gross, dass in einer touristischen Fernsehsendung (oder ethnografischen Abhandlung) über Basel die "Line", diese kilometerlange Aneinanderreihung von Graffiti-Kunstwerken in der Einfahrt zum Bahnhof SBB, gezeigt wird, eher das Münster, der Rhein, die Fasnacht.

Jede Gesellschaft besteht aus mehreren kulturellen Traditionen. Zwischen ihnen wird ständig ausgehandelt, was nun das ist, was "unsere Kultur" genannt wird. Die Definitionsfrage ist immer auch eine Machtfrage, und da junge Leute weniger Macht haben, werden sie weniger gehört und werden auch weniger in Forschungen repräsentiert.

Arild Hovland (1996) ging diesem Problem in seiner Forschung über samische Jugendliche in Nordnorwegen nach. Er zeigt in seinem Buch auf, wie unterschiedlich samische Jugendliche und Erwachsene über ihre Rolle als Samen denken und welche Konflikte daraus resultieren: Muss ein(e) Sami Rentiere haben? Darf er oder sie auf eine House-Party gehen? Viele junge Sami leiden unter dem unter städtischen Intellektuellen so verbreitetem Postulat, junge Leute sollten "die samische Kultur und Tradition weiterführen", denn es sei ja so schade, wenn sie "ihre Kultur und Identität verlieren" würden.

Auch viele junge Leute mit ausländischen Eltern, die aber in der Schweiz aufgewachsen sind, haben unter diesem Problem zu leiden. Sie werden "2.Generations-Ausländer" oder "Secundos" genannt, mein dritter Begriff.


Secundos

Ihre Eltern hätten gerne, dass sie so leben "wie ein guter Türke" oder "wie eine gute Italienerin". Sie sind jedoch hier aufgewachsen und möchten ihr eigenes Ding machen. Türken schicken ihre Kinder in Sonntagsschulen, damit sie "ihre Identität kennenlernen", wie ein türkischer Konsul sich mal ausdrückte. Die hiesigen Behörden nehmen Partei für die Eltern, denn es geht ja darum, "die Kultur der Einwanderer zu bewahren", und das ist ja im Sinne des politisch korrekten Multikulturalismus.

Basels deutsche Nachbarstadt Lörrach veranstaltete vor ein paar Jahren eine gut gemeinte Veranstaltungsreihe unter dem Titel "Zwischen zwei Welten - türkisches Leben in Lörrach". Ich besuchte eine Veranstaltung über türkisches Essen. Junge Türkinnen kochten und boten Kostproben an. Ich fragte sie, ob sie das Essen selber auch kochen und essen würden. Nix da! Sie essen am liebsten italienisch oder chinesisch und kochten das zum ersten Mal.

Man gesteht diesen "Secundos" nicht zu, dass sie etwas Neues, etwas Eigenständiges sind und nicht nur die Kopien ihrer Eltern. In der Wissenschaft wird diese Gruppe nicht besser behandelt. Für viele Forscher steht im vornherein fest, dass ihr Status als "Secundo" etwas Negatives ist. Secundos haben per Definition ein Problem mit ihrer Identität. Sie sind nämlich, meinen die Wissenschaftler, "hin- und hergerissen zwischen beiden Kulturen": der ihrer Eltern und der des Landes, in dem sie jetzt wohnen. Dies wird so oft wiederholt, dass die "Secundos" am Schluss wirklich glauben, mit ihnen stimme etwas nicht.

Viele der Hip-Hopper sind "Secundos", viele hatten in der Tat Mühe mit ihrer "Identität", doch dies in erster Linie, weil es von der Öffentlichkeit zu einem Problem gestempelt wurde. Unni Wikan (1995) beschäftigt sich in einem Buch über Einwanderung mit dem Thema. Sie liefert ein eindrückliches Beispiel.

Ein elfjähriger Junge hatte Eltern, die, seit er fünf war, geschieden waren, aber er hatte ein ausgezeichnetes Verhältnis zu beiden. Eines Tages veranstaltete seine Schule einen Thema-Tag über Scheidungskinder. Nach dieser Veranstaltung kam der Junge heim zu seinem Vater und sagte: "Du Papa, bin ich ein Scheidungskind?" (WIKAN 1995:57).

ACE mochte meine Frage, ob er sich nun türkisch oder schweizerisch fühle, nicht besonders: "Die Frage setzt mir Grenzen." Er sieht sich selbst als etwas "Undefinierbares", Eigenständiges, das sich nicht mit Nationalität beschreiben lässt.

Tarek hat mit zunehmenden Alter eingesehen, dass "Arabisch", "Deutsch" und "Schweizerisch" keine unüberbrückbare Gegensätze sind. Jetzt nutzt er seinen gemischten Hintergrund bewusst, kombiniert, ist stolz darauf.

Puccio geht "das Gerede von Staat und Identität" auch auf den Geist. Es mache die Leute dumm, findet er, verstelle den Blick auf Wichtigeres. In mehreren Gesprächen drücken Hip-Hop-Künstler ihre Abneigung gegenüber Grenzen aus, erzählen davon, wie sie sie in ihrer Entfaltung hindern.

Genauso wie "Schicht" müssen wir "Herkunft" neu definieren. Die Begriffe dürfen nicht länger allein an den Eltern festgemacht werden. Eins sind Basels Hip-Hopper auf jeden Fall: waschechte Basler. Und vor allem sich selbst!