4.2. Gründe für die Konflikte durch die Saamenpolitik


Grundübel der geschilderten Konflikte sind Nationalismus und Zentralismus.

Nationalismus sehe ich hier im Sinne von Øyvind Østerud als

(Østerud 1984:33-34 in Stordahl 1994:151).


Mit dem Nationalismus verbunden sind Auffassungen über Nation und Kultur.

Nation wird synonym mit Kultur benutzt und verstanden als

(Hobsbawm 1996:25).


Politisches Diktum ist, dass ethnische oder kulturelle Grenzen mit politischen Grenzen zusammenfallen (Gellner 1995:8-9). Im Idealfall sollte jede ethnische Gruppe über ihr eigenes Territorium verfügen und darauf über sich selbst bestimmen und gemäss ihren Traditionen leben können.

Solche Haltungen sind die Grundlage für


Wie komme ich darauf? Und was ist daran problematisch?

Nationalismus und Sozialdarwinismus in der Vergangenheit

Norwegen hat seinen Nationalstaat aufgebaut und die Saamen als "unnationales Element" diskriminiert, sprachlich und kulturell unterdrückt, von ihrem Land vertrieben. Saamische Kultur, so das Ziel der norwegischen Politik, sollte eliminiert werden. Dies rechtfertigte man mit sozialdarwinistischen und rassistischen Argumenten, wonach norwegische Kultur saamischer Kultur überlegen sei. Nationalismus erwies sich hier als Ideologie, die fundamentale Menschenrechte verletzt, u.a. das Recht auf individuelle Selbstbestimmung. Die Folge ist, dass heute saamische Identität teilweise immer noch mit Stigmas verbunden ist - von norwegischer wie auch von saamischer Seite (siehe Kap. 2).

Nationalismus in der Saamenbewegung

Auch die ethnopolitische Bewegung der Saamen ist eine nationalistische Bewegung. Sie basiert auf der Vorstellung, die Saamen seien eine Nation, ein eigenes Volk mit eigener Geschichte und Kultur, wie es das saamenpolitische Programm anno 1980 formuliert hatte. Die Bewegung entspricht dem, was Østerud (1984) "Programm für nationale Selbstbehauptung" genannt hat.

Politisch erzwungener Nationalismus?

Ob nun beim Schaffen einer norwegischen oder saamischen Nation - es sind dieselben Prozesse zu beobachten. Man formt eine Gemeinschaft und baut eine Gruppenidentität auf, um sich von der Unterdrückergesellschaft zu lösen. Man muss Idiome finden, um Einheit innerhalb der Gruppe herzustellen. Diese Idiome müssen die eigene Gruppe von anderen relevanten Gruppen abgrenzen können. Alte Mythen und Stereotypen wurden hervor gekramt und neue produziert, um den Unterschied zwischen Saamen und Norwegern als eindeutig erscheinen zu lassen. Währenddessen wurde die eigene Geschichte aufgearbeitet, eine eigene Flagge kreiert, ein Nationalfeiertag ins Leben gerufen, neue Lehrbücher in saamischer Sprache geschrieben, alte Volksmusik aufgelebt, Trachten wieder entdeckt und neue kreiert, eigene Museen aufgebaut.

Die eigene Kultur dient als Legitimation für Sonderbehandlung, zur Legitimation von Massnahmen zur Förderung der saamischen Sprache, zur Bewahrung traditionellen Wissens und traditioneller Wirtschaftsformen sowie des Anspruchs auf Land- und Wasserrechte, die den Saamen während der Bildung des Nationalstaates Norwegens genommen worden waren. Die eigene Kultur zu betonen ist teilweise auch ein Sachzwang. Nur dann, wenn sich die Saamen eindeutig von der Mehrheitsbevölkerung abgrenzen lassen, haben sie das Recht, von der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) oder den Vereinten Nationen (UNO) als schützenswerte Urbevölkerung anerkannt zu werden (siehe Kap. 1).

Wer ist Saame? Das Dilemma der "Mischlinge"

Das ist auf den ersten Blick fraglos eine legitime Sache. Der norwegische Staat hat Unrecht begangen und muss dies wieder gut machen. Die Herrschaft über Nordnorwegen hat er widerrechtlich an sich gerissen. Daran zweifelt inzwischen kaum ein Jurist mehr. Doch Nationalismus baut auf der Vorstellung auf, die Welt liesse sich in verschiedene voneinander abgrenzbare Kulturen aufteilen. Diese Arbeit sollte deutlich gemacht haben, dass dies im heterogen zusammen gesetzten Nordnorwegen nicht so ist. Entsprechend schwierig ist es zu definieren, wer nun zum Beispiel in den Genuss von Sonderrechten auf Land und Wasser kommen sollte. Es ist fraglich, ob es jemals gerechte Kriterien geben kann, die jemanden als Saamen auszeichnen und andere nicht. Auf dieser Basis lässt sich nur schwer zukunftsfähige Politik machen und Rechte verteilen.

In jedem Land, das Urbevölkerungen beherbergt, gibt es andere Definitionen und das zeigt schon die latenten Ungerechtigkeiten im System. Jemand, der in Norwegen als Saame Stimmrecht bekommen würde, kann in Finnland davon ausgeschlossen sein. Jemand, der vor zehn Jahren beantragt hatte, Saame zu werden, hat grössere Chancen zugelassen zu werden, wenn er es jetzt probiert.

Die Definitionsfrage ist immer schwierig, und immer hängt immer ein Stückchen staatliche Willkür mit drin. Vor allem "Mischlinge" haben darunter zu leiden. Sally Weaver (1985) zeigt dies anhand von Beispielen aus Canada und Australien auf. Australien hatte lange Zeit Aboriginees quasi mathematisch definiert: Es ging um den Prozentsatz an Aboriginal- Blut. Die Behörden unterschieden zwischen "Full-Bloods" und "Half-Castes" (Mischlinge). Letzteren wurde der Status als Aboriginee abgesprochen, unabhängig davon, welcher Gruppe sich der- oder diejenige zugehörig fühlte. Erst 1968 hat sich die Definition geändert. Von da an wurden Eigen- und Fremdzuschreibung gleichermassen einbezogen.

In Canada beruft man sich immer noch auf die Einteilung der britischen Krone und auf die Listen der Regierung von 1876. Es gibt "Status-Indians", die das Recht haben, im Reservat zu siedeln und "Non-Status-Indians", die dieses Recht nicht haben. Nachkommen von indianischen Müttern und weissen Vätern haben keine Rechte (Weaver 1985). In Finnland hat eine neue Definition für rechtliche Zwiste gesorgt. Mehrere solcher Fälle sind bis an den Obersten Gerichtshof getragen worden. Unter anderem hat Finnland vor, die Rentierzucht nur noch für Saamen zuzulassen. Es entstehen ungerechte Situationen, wenn z.B. Angehörige saamischer Familien, die seit Generationen Rentierwirtschaft betreiben, plötzlich das Recht verlieren, weil Angehörige anderer ethnischer Gruppen in ihrem Stammbaum sind.

Nationalismus schränkt Recht auf Selbstbestimmung ein

Urbevölkerungen stehen vor den selben Problemen wie Nationalstaaten. Auch sie haben das "Problem", dass innerhalb ihrer Grenzen mehrere Angehörige "ethnischer" oder "nationaler" Gruppen und jede Menge "Mischlinge" wohnen. Nirgendwo auf der Welt gibt es "ethnisch reine" Gebiete und genauso wenig kulturell einheitliche Gebiete. Und wenn doch, dann steht ein langer Prozess der Nationalisierung durch den Staat dahinter.

Nationalismus definiert Menschen nach ihrer Herkunft, d.h. nach ihrer Herkunftskultur und nicht nach ihrer individuellen Erscheinung. Das sieht man bei der Diskussion des Themas Doppelte Staatsbürgerschaft: Welchen Staat sind Mischlinge oder 2.Generations- Ausländer zuzuordnen? Sind sie Einheimische? Sie sind ja hier aufgewachsen? Stattdessen kommt ein nationalistischer Diskurs auf, der die Identität der Kinder und Jugendlichen über ihre Eltern definiert und sie in Rollen presst, die ihnen nicht entsprechen und die ihnen die Freiheit auf Selbstbestimmung nehmen. Das betrifft junge Ausländer (siehe Kap. 1) genauso wie junge Saamen (siehe Kap. 2). In diesem Sinne meinte der saamische Jurist Ande Somby, dass Staatsbildung auf ethnischer Grundlage der Vergangenheit angehört. Alle Gesellschaften, auch die saamische sollten multikulturell sein (Kap. 3).

Der Saamen-Nationalismus hat sowohl unter den Saamen wie auch unter den Norwegern zu einer Reaktion geführt im Sinne von "Jetzt übertreibt man es mit dem Saamischen ein wenig". Menschen reagieren oft skeptisch auf Neuerungen und viele tun sich schwer mit den Änderungen, u.a. damit, dass die Saamen jetzt mehr Macht haben. Kurz nachdem der saamische Lehrplan eingeführt worden war, kamen Initiativen zum obligatorischen Saamisch-Unterricht für Kindergartenkinder auf und machte sich eine Saamenpolitikerin dafür stark, den saamischen Lehrplan in ganz Nordnorwegen einzuführen.

Es ist nachvollziehbar, dass kritische Reaktionen nicht ausblieben und sich nach und nach eine ablehnende Haltung gegenüber allem "Saamischen" breit gemacht hat. Ähnliche Reaktionen waren abzusehen, als man in Karasjok eigene saamische Quartiere schaffen wollte. Damit wollte man Kindern den Kontakt mit anderen saamisch sprechenden Altersgenossen erleichtern (Kap. 3). Immer wieder hört man von Leuten, die sich für die Errichtung eines eigenen saamischen Staates stark machen. Das sind zwar nur Einzelkämpfer, die im saamischen Milieu nicht ernst genommen werden, doch eine negative Stimmung unter Norwegern und Kvenen gegen Saamen erzeugen.

Wenn sich heute viele Leute darüber beklagen, dass Identität politisiert wird und ganze Dörfer und Städte gespalten sind, dann liegt das am saamischen Nationalismus, der auf einer eindeutigen Grenzziehung beharrt. Er zieht Grenzen nicht nur nach aussen, sondern auch nach innen. Es gibt nur ein begrenztes Reservoir an Merkmalen, die als saamisch anerkannt werden, wie wir am Beispiel der Auseinandersetzungen zwischen Jung und Alt gesehen haben.

Nationalismus und Zentralismus als norwegische Staatsideologie

Nationalismus ist Staatsideologie Norwegens. Damit meine ich explizit nicht nur den frühen Nationalismus zur Zeit der Norwegisierung der Saamen, sondern auch die heutige Staatsideologie, die sich unter anderem im staatlichen Bildungssystem wie auch im öffentlichen Diskurs und in pro-saamischen Massnahmen offenbart. Den Norwegen- Nationalismus sehe ich als Hauptursache für die Ablehnung des Saamischen als Teil der norwegischen Gesellschaft.

Diese teils fundamentalistische Ablehnung ist eines der auffallendsten Züge in den Debatten um den saamischen Lehrplan und um saamische Ortsschilder. Eine Ablehnung, die verblüfft, wenn man an die multikulturelle Geschichte des Landesteiles denkt. Hier ist ein Blick auf Ideologien- und Wahrnehmungskonstruktion nützlich. Denn es kommt nicht von ungefähr, dass das gesellschaftliche Klima so ist, wie es Rechtsfilosof Nils Oksal beschreibt:

(Oksal 1999:161).


Wenn sich jetzt prozentual mehr Leute als früher als "richtige Norweger" bekennen, dann steht da ein langer Prozess der "Kolonialisierung des Geistes" durch den norwegischen Staat dahinter, der immer noch andauert. Wie man auch von anderen Ecken der Welt weiss, spielt beim Prozess der Nationalisierung die Bildung durch staatliche Institutionen eine zentrale Rolle. Die bisher lokal ausgerichtete Wissensvermittlung wurde in den neuen Nationalstaaten ersetzt durch ein zentralisiertes, nationales Ausbildungssystem. Besonders wirkungsvoll sind Schriften über "unser Volk" und "unsere Kultur". Durch sie lernt man, welcher Gruppe man angehört und was "die eigene Kultur" ausmacht.

Dies wussten auch die Nationenerbauer Norwegens. Wie in Nordamerika wurden Kinder der Ureinwohner in Internate gesteckt, um sie zu nationalisieren. Auch die Nicht-Saamen bekamen die Nationalisierung zu spüren - durch einen Unterricht, der sich hauptsächlich um das "nationalere" Hauptstadtgebiet in Südostnorwegen drehte.

Erziehung zu "richtigen" Norwegern

Håkon Rune Folkenborg (1999) hat in einer Lizenziatsarbeit (hovedoppgave) diesen Zusammenhang von Lehrbüchern und Identität untersucht. Er findet es offensichtlich, dass Schüler mit diesen Büchern zu Norwegern erzogen werden sollten - und zwar zu ganz bestimmten Norwegern. Folkenborg entdeckte eine implizite Wertung in vielen Büchern. Nordnorweger im allgemeinen und Saamen ganz besonders werden in der Entwicklung Norwegens zu einem modernen Staat als hinterwäldlerisch dargestellt. Als "Herren der Entwicklung" dürfen sich diejenige bezeichnen, die sich mit den "ostnorwegischen ethnischen Norwegern" (aus der Hauptstadt-Gegend) identifizieren.

Diese Haltung lasse sich durch die implizite Auffassung über "das Norwegische" erklären, schreibt er in einem Beitrag für die Zeitung Dagbladet:

(Folkenborg in Dagbladet, 1.11.99).


Die Auffassungen über das "Wir" hätte sich während der Nachkriegszeit stabil gehalten, schreibt er. Sie hätten Folgen für unser Denken über "Andere":

(Folkenborg in Dagbladet 1.11.99).


Nordnorwegen wurde auch im öffentlichen Diskurs und in der Politik als unmoderner, abseits liegender Landesteil angesehen, der nur dank grosszügiger Subventionen bestehen konnte. Nordnorweger bekamen in den 60er-Jahren Prämien, wenn sie von periferen Gebieten in zentralere Gebiete zogen. Viele Nordnorweger wuchsen mit Minderwertigkeitskomplexen auf.

Diese nationalistische und zentralistische Perspektive, die Folkenborg noch in Büchern von Anfang der 90er-Jahre ausmachen konnte, hat auch mit der relativ starken Position des Staates im norwegischen Ausbildungssystem zu tun. Nationalismus-Forscher Peter

Normann Waage vergleicht in seiner Analyse des Lehrplan-Streites in Tana in der Zeitung Dagbladet das norwegische mit dem dänischen System. Als das dänische Gesetz für Privatschulen Ende der 1940er-Jahre beschlossen wurde, begründete das der damalige dänische Unterrichtsminister so: Das Land brauche private Schulen, um die Macht des Staates zu begrenzen. In Norwegen, so Normann Waage, sei es umgekehrt: Der Staat sollte, um die Einheit der Nation zu fördern, möglichst viel Macht haben und die Schulen so weit wie möglich vereinheitlichen. Der Konflikt um die Einführung des saamischen Lehrplans deutet er als "Resultat des traditionellen norwegischen Einheits-Schule-Gedankens" (in Dagbladet 27.8.97).

Es ist kein Wunder, wenn Leute, die mit einer solchen zentralististischen nationalistischen Ideologie gross geworden sind, Mühe haben, wenn sie plötzlich etwas schätzen sollen, was vor einer Generation noch diskriminiert wurde: die Identität als Saame oder auch die Identität als Nordnorweger. Immer noch gibt es viele Saamen, die sich nicht trauen, sich als Saame zu outen, besonders in den Fjord- und Küstengebieten. Saamen sind für einige Nordnorweger immer noch ein unnationales Element. So lässt sich meiner Meinung nach die Ablehnung des saamischen Lehrplans und zweisprachiger Ortsschilder ein Stück weit erklären.

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