4.3. Schlussfolgerungen
Welche Folgerungen ergeben sich aus dem Material für Minderheitenpolitik? Diese Frage werde ich in zwei Teilen beantworten. Im ersten Teil werde ich anhand ethnologischer Literatur und aufbauend auf den Erkenntnissen dieser Arbeit Prämissen einer anderen Minderheitenpolitik vorschlagen. Im zweiten Teil diskutiere ich Basisdemokratie und Regionalismus als möglichen Ausweg für fest gefahrene Debatten über Sprachgesetz, Lehrplan und Landrechte.
Eine transethnische Perspektive auf Kultur und Identität
Wenn wir von "Kultur" oder "Kulturen" reden, dann können wir von folgenden Prämissen ausgehen. Sie sind Teil einer transethnischen, einer über das Ethnische hinaus gehenden Perspektive auf Kultur und Identität.
Ein Resultat von Prozessen
Was sich vor unseren Augen abspielt, die Gedanken, die gedacht werden, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Menschen, die wir vorfinden, sind das Resultat von Prozessen. Nichts ist natürlich, nichts ist "einfach so" da. Alles hat eine Geschichte. Alles hätte ganz anders kommen können. Vor 150 Jahren war "norwegische Ethnokultur" (Oksal 1999) nicht so selbstverständlich wie heute. Die Selbstverständlichkeit ist das Resultat politischer Prozesse. Es besteht wie Barth sagt, die Aufgabe, "so naturgetreu wie möglich (naturalistisch), die Prozesse, die wir entdecken, zu modellieren und zu zeigen, welche Auswirkungen sie haben" (Barth 1994:13).
Mehrere kulturelle Ströme in einer Gesellschaft
Jede Gesellschaft, ob nun die schweizerische, norwegische oder saamische, besteht aus mehreren kulturellen Traditionen oder Strömen. Zwischen ihnen wird ständig ausgehandelt, was als "gemeinsame Kultur" gilt. Ich lehne mich hier an Fredrik Barths Pespektive auf kulturellen Pluralismus (1983, 1989, 1994b) nach Studien im Mittleren Osten und auf Bali. In der saamischen Gesellschaft haben wir unzählige kulturelle Ströme - auch historisch gesehen: die der Rentier-Saamen und die der Meer-Saamen sowie der von Jung und Alt, Stadt und Land zum Beispiel. Doch nicht jede Stimme ist gleich einflussreich im öffentlichen Diskurs.
Hier ist es wichtig, auf den Machtaspekt aufmerksam zu sein und viele gleich berechtigte Stimmen zuzulassen. Das ist das, was in der postmodernen Ethnologie als "Polyphonie" oder "Vielstimmigkeit" von Texten genannt wird (u.a. Clifford 1986:13-15).
Ein Diskurs über Kultur
Nützlich ist deshalb der Diskurs-Begriff, den Foucault in Umlauf gebracht und den Arild Hovland (1996) auf saamische Kultur anwandte. Hovland redet nicht von saamischer Kultur, sondern von einem Diskurs über saamische Kultur und darüber, was saamische Kultur sein soll. Ein Diskurs, schreibt er, werde vorangetrieben von Informationen und Eindrücken aus verschiedenen soziokulturellen Niveaus, die miteinander konkurrieren. Daher sei der Begriff nützlicher als der Einheitlichkeit suggerierende, schwammigere Begriff "Kultur":
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Der Gebrauch des Diskursbegriffes ermöglicht es, Leute mit stark
unterschiededlichen Standpunkten und Interessen in die Analyse mit einzubeziehen
- in dem Fall sowohl Norweger, Kvener und SSaamen. Sie sind alle Teilnehmer in dem
nordnorwegischen Diskurs über ethnische Zugehörigkeit - obgleich sie nicht
unbedingt "Kultur" miteinander teilen müssen. (...) Die Saamen betreffend können
wir zusätzlich über einen saamischen Diskurs reden, den sie allein verwalten und
aus einer langen Reihe von Aussagen besteht zum Thema, was es sei, Saame zu sein
und was dies für das Individuum und die Gemeinschaft zu bedeuten habe
(Hovland 1996:40).
Zum Diskurs gehören verbale Äusserungen genauso wie individuelle Handlungen. Dieser Diskurs formt das was Harald Eidheim (1992) das "Master Paradigm" nennt: eine Ansammlung von Ideen, wie Saamen sowie die saamische Gesellschaft sind und sein sollten.
Alle Gedanken werden von Individuen gedacht
Solch eine Perspektive muss zwangsweise näher am Individuum ausgerichtet sein und die Gesellschaft als ein Zusammenspiel vieler individueller Handlungen ansehen. Denn alle Gedanken werden von Individuen gedacht und alle Handlungen werden von Individuen getätigt. Jeder hat seine eigenen Gründe, weshalb er dies oder jenes macht und jeder erlebt ein Ereignis auf seine eigene Weise. Dies zeigten die Debatten um Sprachgesetz, Lehrplan und Landrechte deutlich.
Mit einer Perspektive auf individuelle Wahrnehmung und Handlung lassen sich gesellschaftliche Phänomene besser erklären. Viele Ethnologen sehen eine "Perspektive von unten" als Alternative zum allzu generalisiereden Analysieren ganzer Kulturen. So bevorzugt Lila Abu-Lughod (1991) "Ethnographies of the Particular": Anstatt zu generalisieren studiert sie lieber einzelne Phänomene, kleine Ausschnitte einer Gesellschaft aus der Perspektive von Individuen. Anstatt Behauptungen wie "Die Bongo-Bonge sind polygam" von sich zu geben könnte man der Frage nachgehen, wie ein Mann mit seinen drei Frauen diese Institution der Polygamie lebt:
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By focusing closely on particular individuals and their changing relationships, one
would necessarily subvert the most problematic connotations of culture:
homogeneity, coherence, and timelessness
(Abu-Lughod 1991:154).
Sie will sich damit nicht von den "larger forces" auf der Mikro-Ebene zurückziehen:
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Yet because these "forces" are only embodied in the actions of individuals living in time
and place, ethnographies of the particular capture them best
(Abu-Lughod 1991:156).
Unni Wikans Buch über Armut in Kairo (Wikan 1996) besteht zum grössten Teil aus dem Portrait einer Frau und ihrer Familie. Wikan sieht den Fokus auf das Individuum auch als Alternative zu einem zweifelhaftem Kulturrelativismus. Nicht Respekt vor anderen Kulturen sollte man predigen, sondern das Recht von Individuen auf eine eigene kulturelle Identität (Wikan 1993, 1996, 1999).
Thomas Hylland Eriksen (1991, 1993a, 1993b, 1994) individualisiert Kultur am radikalsten:
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Es sollte an jedem Einzelnen liegen zu entscheiden, ob er oder sie sich "einer Kultur"
anschliesst oder es bleiben lässt, und es ist höchste Zeit, dass sich die Politik von
Vorstellungen über kulturelle Gemeinschaften (fellesskap) befreit
(Eriksen 1993a:59).
Kultur betrachtet er losgelöst von kollektiven Einheiten, losgelöst von Geschichte, Territorium und Tradition. Kultur, findet er, hänge von dir und mir ab. Verstehen sich zwei Menschen, dann haben sie gemeinsame Kultur. Kultur ist das, was Kommunikation möglich macht (Eriksen 1994:32).
Multiidentität und situationelle Identifikationen
Die persönliche Identität besteht nicht nur aus der ethnischen Identität. Sowohl Arild Hovland als auch Britt Kramvig betonen, dass für viele Leute die Identifikation mit einem Ort wichtiger ist. Ausserdem können Menschen mehreren kulturellen Strömen angehören, auch zu mehreren Gesellschaften oder "Kulturen" - je nach Situation: Die Identität kann wechseln, an Bedeutung gewinnen und verlieren. Menschen haben viele Identitäten - sie identifizieren sich mit ihrem Wohnort oder ihrer Region, mit ihrem Freundeskreis, ihrem Beruf oder ihren Berufskollegen, ihrer Religion oder ihrer Religionsgemeinschaft oder mit sonstigen Gleichgesinnten.
Ethnische oder nationale Identifikationen sind nur eine von vielen Identitäten, eine inzwischen umfangreiche Literatur weist darauf hin (siehe Okamura 1981, Eriksen 1993b). Forscher müssen daher jedes Mal von neuem herausfinden, welche dieser Identitäten in dieser oder jenen Situation die wichtigste ist. Es kann also sein, dass saamische Techno-Freaks mehr gemeinsame Kultur mit schweizerischen Technofreaks empfinden als mit einem saamischen Rentierhirten - zumindest auf der Zürcher Love Parade.
Eine Welt voller Verbindungen
Jedes Individuum ist in einer Vielzahl von Gruppen heimisch, zu der es die verschiedensten Beziehungen pflegt. Nichts zeigt dies deutlicher als die nordnorwegische Geschichte. Eric Wolf (1982) wies anhand der Geschichte der letzten 600 Jahre nach, dass auch angeblich abgeschieden lebende Gesellschaften in vielfältigen Beziehungen mit der Aussenwelt standen. Auf die zunehmenden transnationalen Verbindungen von Leuten, Medien, kulturellen Formen und Waren machen immer mehr Studien aufmerksam (u.a. Appadurai 1991, Eriksen 1994, Kuper 1994, Basch, Schiller und Blanc 1994, Kearney 1995, Hannerz 1996, 1998). Verbindungen aufzeigen heisst auch, Gemeinsamkeiten zwischen Menschen aufzuzeigen, etwas, das Unni Wikan (1999) und Adam Kuper (1999) betonen. Kuper sagt:
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Good ethnographers are often struck by the continuities between the most exotic field
setting and their own home towns. At some point they may stop worrying that cross-
cultural understanding is beyond their grasp
(Kuper 1999:244-5).
Menschen mit je unterschiedlichem Background
Vielleicht sollte man einfach nur von Menschen mit jeweils unterschiedlichem Background reden. Zum Background gehören die persönliche Lebensgeschichte, die Erfahrungen, die man in einem bestimmten Umfeld oder in mehreren machte und natürlich die überlieferten Denkmuster, Traditionen und Normen. Was am meisten prägte, muss man in der individuellen Biografie suchen. Dieser Background kann Menschen in der selben ethnischen oder nationalen Gruppe gleichen, muss aber nicht.
Basisdemokratie und Regionalismus
Zeitgemässer als eine Politik, die sich speziell an einzelne Kulturen richtet, ist eine Kombination von Transethnizismus, Basisdemokratie und Regionalismus. Ich werde das in Bezug auf Landrechtskonflikte und den saamischen Lehrplan kurz erklären.
Politik sollte sich zum Beispiel zuerst auf die Suche nach den relevanten Einheiten machen: Welche Parteien und Gruppen sind involviert? Wer steht in Konflikt mit wem? Politik sollte mehr an den lokalen Verhältnissen orientiert sein. Mit dieser Herangehensweise wird man zum Schluss kommen, dass es sich bei vielen Konflikten, vor allem bei den Landrechtskonflikten, um einen Konflikt zwischen verschiedenen politischen und ökonomischen Ebenen handelt, um ungleiche Machtverteilung zwischen Zentrum und Periferie, Staatsapparat und Lokalbevölkerung.
Deutlich wird dies, wenn man sich die Rolle des Staates vergegenwärtigt, der von Süden kommend, den nördlichen Landesteil kolonisierte und in das Leben der Menschen eingriff, unter anderem durch die Regulierung der Rentierzucht (Kap. 2). Es geht auch um einen Staat, der saamische und nordnorwegische Geschichte unsichtbar machte und sich mit einer nationalen Staatsideologie selbst ins Zentrum stellte.
Weshalb es mehr Mitbestimmung braucht
Immer wieder hat man von Gegnern der Einführung des saamischen Lehrplans und des saamischen Sprachgesetzes gehört, diese Gesetze seien über ihre Köpfe hinweg entschieden worden. In Manndalen wurde eine Volksabstimmung durchgesetzt, bei der sich tatsächlich eine Mehrheit gegen den neuen saamischen Ortsnamen ausgesprochen hat. In Kåfjord scheint man Zentralismus gewohnt zu sein. Hovland (1996) schrieb, es sei Tradition, sich gegen die Macht von oben aufzulehnen. Wie sich die Möglichkeit auf Mitbestimmung ändern wird, wenn, wie sich abzeichnet, immer mehr Gemeinden zu Grossgemeinden zusammengeschlossen werden, lässt sich zwar nicht voraus bestimmen, doch erahnen.
Dass Landrechtskonflikte ein Kampf zwischen lokalen Gruppen und Staat oder Grosskapital sind, zeigen Fälle wie der folgende (Nordlys, 16.5.95). In der Finnmark gibt es offenbar grössere Vorkommen von Diamanten und anderen wertvollen Mineralien. Immer wieder müssen die Behörden Gesuche auf Probebohrungen und auf Diamantensuche behandeln.
Der Entscheid im Mai 1995 sah wie folgt aus: An der Basis wurden die Gesuche deutlich abgelehnt. Sowohl der Gemeinderat von Karasjok und Kautokeino sagten einstimmig nein. Die Gebiete, in denen gebohrt werden sollte, seien für die Einwohner von grossem Wert hinsichtlich Landnutzung, Naturschutz und Erholung, so die Begründung. Weiter oben in der Verwaltung, im Fylkesting (=Kanton), ist man anderer Meinung und sieht keine Bedenken, dieser Firma die Bohrerlaubnis zu erteilen. Im Zeitungsartikel finden wir einen Kommentar vom damaligen Präsidenten des Saamenparlamants, Ole Henrik Magga:
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Ich habe nichts anderes erwartet, als dass das Fylkesting sein Ja zur weiteren
Diamantensuche geben wird. Das Fylkesting hat nie Wert gelegt auf saamische
Interessen und saamische Sichtweisen. Das ist einer der Gründe, weshalb wir das
Saamenparlament aufbauen mussten.
(in Nordlys 16.5.95).
Wir sehen, dass das Fylkesting andere Interessen und eine andere Wahrnehmung von Problemen hat als die Lokalbevölkerung. Es gibt daher viele Stimmen, die sich dafür einsetzen, der Bevölkerung vor Ort mehr Mitbestimmungsrechte zu verleihen - unabhängig von offizieller ethnischer Zugehörigkeit. Stärkung der Lokaldemokratie war in den letzten Wahlkämpfen ein prominentes Thema. So ist die saamische Politikerin Johanne Gaup davon überzeugt, dass eine lokale Verwaltung mit mehr Entscheidungsvollmacht saamischen Einfluss über die Ressourcen sicher stelle:
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Ich glaube nicht, dass die Fronten in dem Konflikt zwischen Saamen und anderen
verlaufen würden, sondern zwischen Lokalbevölkerung und Grosskapital. Deshalb
glaube ich, dass allen mit grösserer lokaler Kontrolle über die Naturressourcen
gedient sein würde
(in Nordlys, 24.1.96).
Nun gibt es hier kritische Stimmen, unter anderem aus dem saamischen Lager, die befürchten, nicht genügend gehört zu werden, wenn wie in manchen Gemeinden der Fall, Saamen nur 20 Prozent oder weniger der wahlberechtigten Bevölkerung stellen. Hier wird abzuwägen sein, inwiefern Sonderregelungen im Rahmen des Minderheitenschutzes berechtigt sind.
Für die Regionalisierung der Politik spricht, dass sie eine Alternative zu problematischen ethnischen Fixierungen darstellt. Die Regionalisierung trägt auch der Selbstidentifizierung eher Rechnung, die sich in vielen Fällen nach Orten und Regionen richtet anstatt an eine ethnische Gruppe. In diese Richtung, erinnern wir uns, gehen auch die Vorschläge des Saamenrechts-Ausschusses (NOU 1997:4). Dieser will den Kommunen mehr Macht in der Verwaltung der Naturressourcen zusprechen und sicher stellen, dass alle Bewohner gleich behandelt werden.
In Kautokeino gab es bereits einen Versuch mit einer "Freikommune" (frikommune). Eine "Freikommune" verfügt über mehr Kompetenzen als eine gewöhnliche Gemeinde. Kautokeino konnte z.B. selbst über die Verwaltung eines Teils der Naturressourcen bestimmen. Offenbar hat die Bevölkerung den Versuch gut entgegen genommen, unter anderem mit einem grösseren Engagement in der Gemeindepolitik (Nordlys 23.3.95). Ob der 1995 abschlossene Versuch weiter verfolgt werden soll oder als Modell für eine künftige Umsetzung der Vorschläge des Berichtes der Saamenrechtskomitees (NOU 1997:4) gehandelt wird, darüber habe ich leider keine Daten.
Eine transethnische und lokale Perspektive in der Schule
In Kapitel 2 und 3 wurde dargelegt, wie wichtig Ideologien sind im Umgang mit Anderen und was für eine bedeutende Rolle das staatliche Ausbildungssystem spielt. Transethnizismus und Regionalismus im staatlichen Bildungssystem könnte zu mehr "Open Mindedness" beitragen.
Ein Beispiel stammt von einer Feldforschung einer Ethnologin im deutsch-französischen Grenzgebiet (Lask 1993). Seit 1815 verläuft die deutsch-französische Grenze mitten durch das Dorf. Bis zum Zweiten Weltkrieg fanden die Dorfbewohner immer Wege, die Grenze zu ignorieren. Das mussten sie auch. Nur auf der deutschen Seite gab es eine Schule und eine Kirche. Durch die beiden Weltkriege begann eine getrennte Entwicklung beider Ortsteile. In der Zwischenkriegszeit beschloss die französische Regierung, auf der französischen Seite eine eigene Kirche und eine eigene Schule zu bauen. Der Grenzübertritt wurde erschwert.
Während ihrer Forschung mit einer deutschen und einer französischen Schulklasse fiel Tomke Lask auf, wie sehr sich die Wahrnehmung der Grenze geändert hat. Die Schüler sahen die Grenze quer durch das Dorf als etwas Natürliches an. Als Lask die Schüler für einen gemeinsamen Workshop zusammenbrachte, blieben Deutsche und Franzosen unter sich. Der Umgang war geprägt durch stereotype Vorstellungen über die "Anderen". Schnell kam Streit auf. Deutsche beschimpften Franzosen als "Baguette-Kopf", Franzosen nannten Deutsche verächtlich "Stahlhelm", Steine flogen. Was der Ethnologin noch auffiel, waren die Verständigungsschwierigkeiten. Weder sprachen die Franzosen Deutsch noch die Deutschen Französisch. Der einst gemeinsame Dialekt wird kaum noch gesprochen, da er, so Lask, nicht mit der staatlich legitimierten Hochsprache korrespondiert.
Ein Workshop, der das Verbindende zwischen den beiden Dörfern über die Grenze hinweg aufzeigte, konnte die Vorurteile und Ressentiments beseitigen. Für die Schüler war es zum Beispiel spannend, heraus zu bekommen, dass - wie ein Friedhofsbesuch zeigte - die Familiennamen auf beiden Seiten der Grenze häufig die selben sind. Sie bekamen nun die Aufgabe, die Genealogie ihrer Familie aufzustellen. Die Entdeckung, dass die meisten Familien aus Angehörigen mehrerer Nationalitäten bestehen, war neu und aufregend für sie. Sie merkten, dass sie Verbindungen zu Leuten mit anderer Nationalität haben. Nach dem Workshop hörten die Streitereien auf. Tomke Lask schreibt:
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Once they realised that a general judgement made about a whole group of people
defined in terms of culture would also include their German or French grandparents,
sometimes even their own mother or father, they became a little more open-minded
(Lask 1993:67).
Ein lokal ausgerichteter Lehrplan, der die Geschichte und Gegenwart nicht nur aus der Perspektive des Nationalstaats behandelt, sondern das Verbindende der verschiedenen Bevölkerungsgruppen aufzeigt, die Flexibilität ethnischer Grenzen und die Vielfalt an Lebensformen, hat das Potenzial, Menschen "a little bit open-minded" machen. Dieser Meinung ist auch Historiker Håkon Rune Folkenborg (1999), der nach seiner Analyse von norwegischen Schulbüchern zum Schluss kommt, dass es eine weiter gesteckte Auffassung über das "Wir" braucht, das im Schulunterricht verwendet wird.
Man sollte den "Wir- Begriff"; auflösen, der das Nationale als eine abgegrenzte und ewigwährende Einheit ansieht. Und zwar, indem man die Vielfalt und die Veränderlichkeit des Norwegischen zeigt und so auch Angehörige ethnischer Minderheiten als Teil des "Wirs" betrachtet. Dazu zählt er auch die neuen Einwanderer:
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Man sollte auch eine breitere kulturhistorische Perspektive auf die norwegische
Geschichte anwenden, um so besser die Handlungen einzelner Menschen in der
Vergangenheit in ihrem Zusammenhang zu verstehen. So könnten wir zeigen, dass
es regionale wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Unterschiede nicht
deshalb gibt, weil die Gruppen von dem quantitativ typischen Muster abwichen
oder nicht ihr Bestes wussten, sondern weil sie ihr Leben den Umständen
entsprechend vernünftig einrichteten.
(Folkenborg in Dagbladet, 1.11.99).
Es ist eigentlich in diese Richtung, in die sich der Saamische Lehrplan vorsichtig bewegt. Er will die Kinder zur "funktionellen Zweisprachigkeit" erziehen und anerkennt die Realität einer immer mehr internationalisierten Welt an, will die Kommunikation zwischen "verschiedenen Kulturen" erleichtern und gleichzeitig die Lokalkultur stärker einziehen. Deshalb soll die Schule "Träger einer national saamischen und norwegischen Kultur sowie einer internationalen Wissenskultur" sein.
Schlusswort
Kultur ist eines der zwei oder drei kompliziertesten Worte der Sprache, schreibt der Ideologie-Kritiker Raymond Williams (nach Eriksen 1993a:13). Jetzt weiss ich warum. Ich hoffe, die Ambivalenz dieses Begriffes, wird er in politischen Zusammenhängen benutzt, ist klar geworden. Persönlich finde ich, sollte man wo es geht abstrakte Begriffe (Kultur) durch konkrete (Musik, Geschichte etc) ersetzen, grundsätzlich kritisch gegenüber Verallgemeinerungen sein und grundsätzlich erst einmal nach den relevanten Kategorien suchen - ganz im Sinne des Nihilismus des norwegischen Schriftstellers Jens Bjørneboe:
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eine filosofische Richtung, die sich weigert, vererbte, weiter gegebene und konventionelle
Wahrheiten anzuerkennen, bevor man nicht selbst deren Wahrheitsgehalt untersucht hat
(Bjørneboe 1971/89:157).