1.3 Die ethnologische Kritik am Kultur-Konzept


Diese Arbeit fügt sich ein in die Reihe kritischer Untersuchungen über die Verwendung des Begriffes Kultur in Ethnologie und Öffentlichkeit. Ich rekapituliere die kritischen Punkte: Ein kritischer Punkt sind die Generalisierungen, die mit der Verwendung des Begriffs in Wissenschaft, Politik und im öffentlichen Diskurs verbunden sind. Ein anderer, wichtigerer Aspekt ist die Verknüpfung von Kultur mit Volk und Identität: Man geht davon aus, dass es Völker gibt, welche aus Menschen mit gleicher Sprache und Kultur bestehen, dass sich Menschen in erster Linie mit diesen Grössen identifizieren und in Einklang mit ihrer Kultur leben. Stellvertretend für solche Ansichten ist die Definition von Kultur, die noch 1965 in einem führenden deutschsprachigen ethnologischen Wörterbuch zu finden war:

(Hirschberg (red) 1965:243).


Seit den 80er-Jahren wird der Kulturbegriff eifrig in der Ethnologie diskutiert. Inzwischen haben sich die meisten Ethnologen von der Vorstellung von homogenen, in sich geschlossenen Kulturen, die leicht von anderen Kulturen abgrenzbar sind, verabschiedet. Aussagen wie "Die So-und-So glauben dies und das" werden ebenso wie Abhandlungen über "Die Kultur der So-und-So" immer seltener (Eine Ausnahme sind Ethnologen, die sich politisch für "indigene Völker" engagieren und die Rhetorik von "indigenen" Ethnopolitikern übernehmen).

Exotisierung von Menschen

Die Ethnologen sind sich in den letzten 30 Jahren den problematischen Generalisierungen und Grenzziehungen bewusst geworden. Dies führte zu einer umfassenden Selbstkritik. Man erkannte, dass man in der Vergangenheit Unterschiede innerhalb einer "Kultur" unterkommuniziert und Unterschiede gegenüber anderen "Kulturen" überkommuniziert habe. Als "Kultur" hätte man bezeichnet, was die eine "Kultur" von der anderen "Kultur" unterschieden habe. Auf diese Weise, so eine der vehementesten Kritikerinnen, Lila Abu-Lughod, habe Ethnologie dazu beigetragen, "die Anderen" zu konstruieren, sie exotischer zu machen als sie wirklich sind. Auf diese Weise entstünden verzerrte Bilder von der Wirklichkeit:

(Abu-Lughod 1991:143).


Abu-Lughod gehört zu den Ethnologinnen, die inzwischen davon sprechen, der Kulturbegriff werde wie der alte Rassenbegriff verwendet. Ethnologen würden die kulturellen Unterschiede zwischen Gruppen hervorheben. Die Unterschiede würden als selbstverständlich dargestellt, ebenso die Trennung der Gruppen voneinander, so die Begründung von Lila Abu-Lughod. Sie räumt jedoch ein, dass der Kulturbegriff im Gegensatz zum Rassenbegriff Verhalten als gesellschaftlich erlernt und nicht als biologisch vorbestimmt ansieht (Abu-Lughod 1991:143-144).

Thomas Hylland Eriksen (1993a:22ff) argumentiert ähnlich. Er spricht jedoch lieber von Kulturterrorismus ñ besonders wenn es um Kulturrelativismus geht. Unter Kulturrelativismus versteht man das von Herder und Boas stammende Postulat, alle Kulturen seien gleichwertig. Man solle versuchen, sie von ihrer eigenen Warte aus zu verstehen. Eriksen zitiert den dänischen Kultursoziologen Mehmet Uemit Necef (1992), der vorgeschlagen hat, zwischen zwei Formen von Rassismus zu unterscheiden. Die eine sei der rechtsorientierte, faschistische Rassismus, der alle Unterschiede zwischen Menschengruppen als angeborene Unter- oder Überlegenheit deute. Die andere sei die linkslastige, kulturrelativistische Haltung, die Entschuldigungen für alles finde, was Mitglieder "fremder Kulturen" auch machen. Alles werde mit der Begründung erklärt "So ist ihre Kultur", und die Leute würden nicht als moralische Personen ernst genommen.

Eriksen fährt fort mit der Aussage, die multikulturelle Ideologie sei zweischneidig. Auf der einen Seite erlaube sie Leuten verschieden zu sein. Auf der anderen Seite verunmögliche diese Ideologie Gleichbehandlung, da sie eindeutige Grenzen ziehe und Menschen als Repräsentanten ihrer Kultur ansehe:

(Eriksen 1993:24).


Unni Wikan (1995, 1999) kritisiert dieses Denken ebenfalls. Sie findet, dieses Denken baue Mauern zwischen Menschen. Ihr geht es um die Generalisierungen, die wir bei Ausländern vornehmen, nicht jedoch bei uns. Wir sähen uns als reflektierende Individualisten, Ausländer als von ihrer Kultur gesteuerte Kollektivisten. Ausländer würden nicht als Individuen respektiert, sondern immer im Zusammenhang mit ihrer Kultur. Diese Einstellung sei rassistisch:

(Wikan 1999:58, Hervorhebung von mir).


Woher stammen solche stereotypen Bilder von Fremden? Unser Denken, unsere Vorstellungen über Fremde sind geprägt von der Kolonialzeit. Das war die Zeit, in der sich Ethnologie als wissenschaftliche Disziplin entwickelte. Viele Ethnologen standen im Dienst der Kolonialverwaltung. Die Beschreibungen fremder Völker waren oft eine Projektion der Persönlichkeit des Forschers auf die Fremden: eine Projektion seiner Überheblichkeit, seiner romantischen Vorstellungen oder seiner politischer Gesinnung. Edward Said (1978/94) hat dies am Beispiel unseres Bildes über den so genannten Orient aufgezeigt. Für ihn war der Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Politik offenbar. Seine These: Die Bewohner des Orients wurden von westlichen Gelehrten dargestellt, als seien sie unfähig, sich selbst zu verwalten, um so die Herrschaft über sie zu legitimieren. Mit der Stereotypisierung anderer Volksgruppen, zeigte Said, lassen sich Privilegien der eigenen Gesellschaft rechtfertigen. Nichts eigne sich besser als jedem Volk eine eigene stereotypisierte Kultur zuzuschreiben im Sinne von "Die So-und-So sind so und so." Der Orient wurde von den westlichen Gelehrten gleich gesetzt mit Mystik, Romantik und Exotik, der Westen mit Rationalität. Der Westen beschloss, wie Osten zu sein hat, zu Wort kamen die Betroffenen nicht. "Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden", schrieb u.a. Marx in "The Eighteenth Brumair of Louis Bonarparte" (Said 1978/1994:32).

Dale Eickelman (1981) schrieb eine Übersicht über ethnologische Forschungen im Mittleren Osten ("Orient"). Auch er konnte eine bewusste Verfremdung der "Anderen" entdecken. Frühere koloniale Ethnografen sahen zum Beispiel das Wirrwarr an engen und verwinkelten Strassen nordafrikanischer Städte als eine räumliche Projektion der Mentalität der Bewohner: als unlogisch und ohne Ordnung. Dale Eickelmann behauptet, diese Auffassung sei immer noch nicht vom Korpus der Gelehrten verschwunden (Eickelman 1981:269).

Kultur und Macht

Hier spielt der Machtaspekt herein. Es geht um die Frage, wer die Macht hat zu definieren, was relevantes Wissen ist, was zum Beispiel typisch orientalisch oder typisch saamisch ist. Darüber wird es nämlich immer viele Meinungen geben. Doch: Wessen Worte werden gehört? Lila Abu- Lughod (1991) betont das ungleiche Machtverhältnis zwischen Forschern und Erforschten. Letztere seien in der Regel Vertreter von marginalen gesellschaftlichen Gruppen:

(Abu-Lughod 1991:142-3).


Anders ausgedrückt: Als Ethnologe konnte man beinahe schreiben, was man wollte ohne eine Gegendarstellung der "Anderen" zu risikieren. Denn lange Zeit hatten die Erforschten keinen Einfluss auf das Bild, das wir über sie anfertigten. Sie hatten keinen Zugang zum wissenschaftlichen Diskurs. Heute können die früheren "Wilden" zwar lesen. Es gibt auch immer mehr einheimische Ethnologen. Das Machtverhältnis bleibe, so Abu-Lughod, bestehen. Denn nach wie vor, so beklagt sie, begegne man einheimischen Ethnologen mit Skepsis, da man laut ethnologischem Diktum "in fremden Kulturen" forschen sollte, weil einem in "eigenen Kulturen" die zur möglichst objektiven Forschung nötige Distanz fehle (Abu-Lughod 1991:140-142).

Seit Abu-Lughods Beitrag sind einige Jahre vergangen. Die Saamen haben sich inzwischen ein Forschungs-Monopol erarbeitet. In Skandinavien wird diskutiert, in welchem Rahmen Nicht- Saamen über saamische Verhältnisse überhaupt noch forschen dürfen ñ eine Entwicklung in die entgegen gesetzte Richtung, die auch Anlass zu Kritik gab (Thuen 1995:xi-xii). Ähnliche Prozesse sind bei den Maori abgelaufen (Hansson 1989). Wie schwer es dennoch einheimische Ethnologen haben können, anerkannt zu werden, zeigt die Tatsache, dass Vigdis Stordahl (1994) das Bedürfnis verspürte, mehrere Seiten lang zu begründen, weshalb sie als Saamin eine Dissertation über eine saamische Gemeinschaft schreiben könne (siehe Stordahl 1994:8-27). Inger Altern und Lisbeth Holtedahl (1995) schreiben über das Kamerun-Forschermilieu. Auf Konferenzen war viele Jahre lang Mohammadou Eldridge der einzige Forscher aus Kamerun unter den Teilnehmenden. Alle europäischen Forscher waren Experten für eine ethnische Gruppe und in ihren Monografien waren die Fulani die Bösen, welche ihre Gruppe, über die sie jeweils schrieben, unterdrückte. Eldridge ist selber Fulani und hatte grosse Probleme, mit seinen "idealistischen" europäischen Kollegen zu diskutieren. In seinen Versuchen, die Fulani aus ihrer eigenen Perspektive heraus zu sehen, wurde er ständig von seinen europäischen Kollegen kritisiert. Er sei "blind", weil er selbst Fulani sei (Altern und Holtedahl 1995:7).

Die "Anderen" reproduzieren oft Stereotypen über sich im öffentlichen Diskurs. Diese Stereotypen dienen oft ihren eigenen Interessen, jedenfalls den Einflussreichen unter ihnen. Unni Wikan (1995, 1999) schreibt von mehreren Fällen, in denen muslimische Männer das Schlagen ihrer Frau legitimieren, indem sie sagen, das gehöre zu ihrer Kultur. Die Dichotomie Westen-Osten als sich gegenseitig ausschliessende Welten wird laut Rania Maktabi (1994) von politischen Machthabern im Orient noch heute gerne benutzt. Die Machthaber in vielen arabischen Ländern, schreibt Maktabi im Vorwort zur norwegischen Ausgabe von Saids "Orientalism", hätten Interesse daran, ihre Verschiedenheit zu unterstreichen, um ihre eigene autoritäre Führungsform zu legitimieren. Sie behaupten, diese Führungsform sei der Kultur ihres Landes angepasst. Sie weisen damit Forderungen der Opposition nach Demokratie zurück (Maktabi 1994:VIII).

Das Kultur-Konzept unterbindet kritisches Nachfragen:

(Keesing 1987:166).


Kultur und Repräsentativität

Die Machtverhältnisse spielen auch eine Rolle, wenn es um die Repräsentativität von Beschreibungen geht. Das ist eine Tatsache, die seit den 80er-Jahren diskutiert wird (siehe u.a. Clifford und Marcus (red) 1986). Clifford kommt zm Schluss, dass Ethnologen nur "partial truths" vermitteln können, da ihnen immer nur ein Ausschnitt aus der Lebenswelt zugänglich ist (Clifford 1986:7). Was man unter Repräsentativität versteht, ist auch abhängig vom Kulturverständnis der Forschenden. Lange Zeit sah man Kultur als etwas an, das von Generation zu Generation weiter gegeben wurde und ging davon aus, dass alle innerhalb dieser Kultur dieselbe Kultur "hätten". Die idealen Gesprächspartner waren da natürlich alte Männer (da gab es auch noch keinen Feminismus), die angeblichen Hüter des Wissens. Doch was wissen alte Männer schon über das Leben von jungen Leuten oder von Frauen? Wenn wir im Fernsehen oder in ethnologischen Büchern von "Kulturen" erfahren, die altertümlich und fremd wirken, dann liegt das an der grösseren Autorität der alten Männer, die gerne von alten Traditionen erzählen. Das ist auch ein Grund, weshalb Lebensformen junger Leute selten behandelt werden und wenn, dann als von der Norm abweichend und nicht als etwas Eigenständiges (Wulff 1995:2-8, siehe auch Wikan 1995:22ff).

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