Kapitel 3:

Forschen. Als Ethnologe unter Hip-Hoppern

"Man sollte nicht über Breakdance reden, sondern es selber tun. Das Gefühl ist einfach unbeschreiblich" (Nicole Schwarz)


26. März 1998. "Sechs Stutz und mach die Tür hinter Dir zu." Meine Feldforschung hat begonnen. Mit diesen Worten. "Welch Begrüssung", dachte ich. Und wie cool sie da an der Kasse im Sommercasino sitzen. Ich musste an Leute in New York denken. Ja, so übercool sind da die Typen, die U-Bahn-Tickets verkaufen, auch gewesen. Die Drei bekamen ihre sechs Stutz, und ich betrat nun zum ersten Mal in meinem Leben eine Hip-Hop-Disco.

Ich hatte nie zuvor bewusst Hip-Hop-Musik gehört, im Radio klar, immer wieder mal, aber nur als Background. Ein bisschen komisch kam ich mir schon vor. Ich dachte, ich würde garantiert auffallen, ich mit meinen 28 Jahren - unter womöglich lauter Teenies? Ja, und überhaupt meine Klamotten... Ausserdem komme ich allein, ich kenne niemanden, und niemand kennt mich dort. Jetzt, 20 Monate danach, traue ich es kaum zu schreiben, aber ich hatte da doch einige der Vorurteile über Hip-Hop verinnerlicht und glaubte, diesen Abend nicht unter den friedlichsten und bravsten Jugendlichen der Stadt zu verbringen.

Ich war neugierig, was mich da erwarten würde. Ich hatte im Herbst 1997 ein Theaterstück gesehen über Hip-Hop, gespielt von Hip-Hoppern, das mir sehr gefallen hatte (GleisX). Dadurch kam ich auf die Idee, meine Feldforschung über Hip-Hop zu machen. Die Aktiven in der Hip-Hop-Vereinigung Bee 4 Real (B4R) wollten mit dem Stück Vorurteile gegenüber Hip-Hop abbauen. Daraus meinte ich ein Interesse abzuleiten, sich kritisch mit sich selbst auseinanderzusetzen und sich dem Dialog mit der Öffentlichkeit zu stellen.

Zu der Zeit besuchte ich ein Seminar über ethnologische Stadtforschung. Wir kamen zum Schluss, dass es an Studien über Lebensformen junger Leute fehlt. So why not study hip-hop?

An dieser Veranstaltung wollte ich einen ersten Einblick in die Szene bekommen. Ich hatte mich zuvor mit meinem zwei Jahre jüngeren Bruder, der sehr viel Hip-Hop hört (Hard Core), unterhalten. Er meinte, ich solle schauen, was für Musik kommt, "echter Hip-Hop" oder nur "Hitparadenzeug". Ich soll darauf achten, wie die Leute gekleidet seien - sind es nur Mode-Hip-Hopper? Sind es nur Teenis, hat es Ältere unter ihnen? Ich hoffte auch, Kontakte mit Leuten aus der Szene aufnehmen zu können.


Teilnehmende Beobachtung

Ich setze mich zu den anderen auf die Bühnenkante. Hm, dachte ich, eigentlich sieht es hier aus wie in einer gewöhnlichen Disco. Ein paar Leute tanzen, ein Paar eng umschlungen. Die meisten sind so zwischen 16 und knapp über 20, Frauen sind untervertreten. Vom Aussehen her falle ich gar nicht auf. Wohl die richtigen Hip-Hopper, die sich hier treffen, denke ich, mein Bruder würde zufrieden sein. Merkt man auch an der Musik: das ist kein kommerzielles Gedudel!

Ja, nun bin ich also auf Feldforschung. Wie aufregend!? Hier sitze ich und schaue. Immer wieder war Feldforschung Thema im Studium, doch erst "im Feld" wird einem bewusst, was das ist und was die Methode von einem fordert.

Anders als Soziologen und Psychologen begnügen sich Ethnologen nicht damit, Umfragen zu machen. Ethnologen nehmen am Alltag der Leute teil, die sie studieren. Studieren? Ein Ethnologe namens Spradley sagte einmal, Ethnologen würden nicht Leute studieren, sondern von ihnen lernen. "Teilnehmende Beobachtung" heisst die Methode. Franz Boas und Brunoslaw Malinowski führten sie in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts ein. Boas lebte mehrere Jahre zusammen mit den Indianern Nordamerikas, Malinowski mit den Einheimischen auf der Südseeinsel Trobriand, bevor sie Bücher über sie veröffentlichten.

Die Methode ist überall anwendbar, ob in der "Dritten Welt" oder zur Untersuchung des Betriebsklimas eines Unternehmens hierzulande - deswegen sind heutzutage Ethnologen auch im Consulting-Bereich angestellt. Ihre Spezialität ist es, sich in andere hinein zu versetzen - "to grasp the native's point of view", wie es Malinowski (1922) ausdrückte. "Eine gute Feldarbeit ist davon abhängig", so mein Lehrbuch, "dass wir unser Äusserstes versuchen, einzutauchen, dass wir uns gefühlsmässig, voll und ganz in die Welt, die wir studieren, engagieren" (NIELSEN 1996:10).

Über Hip-Hop zu forschen, ohne Hip-Hop-Musik gehört zu haben, Breakdancern zugeschaut und Graffitis bewundert zu haben, ist also in der Ethnologie nicht akzeptabel. Idealerweise sollte man Teil der Gesellschaft, der Szene, werden. Maurice Bloch forderte, man sollte die Arbeit der Leute, über die man forscht, erlernen (nach NIELSEN 1996:51). In meinem Fall hiesse es, mich in einer der vier Hip-Hop-Sparten zu versuchen, aktiv zu werden! Erst dann könne ich lernen, was Hip-Hop ist und für die Leute bedeutet.

Dahinter steckt die Überzeugung, dass viele Informationen nicht oder nur ungenügend via Sprache vermittelt werden können. Manches muss am eigenen Leib erlebt werden. Viele Hip-Hopper würden darin zustimmen. Wie unbefriedigend sind doch die Antworten, fragt man einen Bekannten, wie seine Bergtour in Marokko war oder was nun das Tolle an der Wu-Tang-Clan-CD sei! "Man sollte nicht über Breakdance reden, sondern es selber tun. Das Gefühl ist einfach unbeschreiblich", sagte mir Nicole Schwarz und bringt das Problem auf den Punkt.

Als Ethnologe sollte man deshalb ständig präsent sein. Mein Lehrbuch:


Keine geringen Ansprüche! Ich sitze hier am Bühnenrand, ziemlich ratlos und frage mich: Wie soll ich überhaupt an die Hip-Hopper herankommen? Soll ich jemanden ansprechen und fragen, also ich bin Ethnologe und möchte gerne wissen....? Wie reagieren die überhaupt da drauf? Wen soll ich überhaupt ansprechen? Welche Fragen soll ich stellen? Soll ich einfach nur beobachten und schauen, ob etwas passiert? (Es passierte nichts.)

Ich wurde mir schnell der Herausforderung bewusst. Ich studiere eine Szene und nicht ein Dorf, eine Stadt, eine ganze Gesellschaft oder einen Brauch. Und ich bin ein Outsider.


Wie als Outsider eine Szene studieren?

Eine Szene ist weniger leicht fassbar als ein Dorf. Wer überhaupt ein Hip-Hopper ist, erfährt man nicht aus dem Telefonbuch. In der Stadt erkennt man sie nicht am Aussehen. Hip-Hopper sind lose organisiert: Wann sich Breaker zum Tanzen treffen oder Sprüher ihre nächsten Aktionen in der Bahnhofseinfahrt planen, steht nicht in der Zeitung.

Am deutlichsten bewusst wurde mir der Unterschied im Sommer 1998, als ich im Rahmen meines MGU (Mensch-Gesellschaft-Umwelt) - Studiums mit Kollegen auf Feldforschung in einem ukrainischen Bergdorf ging. Das Thema: Was halten die Einheimischen von Touristen aus dem Westen?

Die Vorgehensweise war einfach: Hier ist das Dorf, dort in den Häusern wohnen sie, da laufen die Leute, die uns interessieren. Fremde fallen auf. Man kommt zwanglos ins Gespräch, beim Spazieren gehen, wenn man sich in eine Beiz hockt und mit den Einheimischen die Fussball-WM anschaut, wenn man den Markt besucht oder in die Disco geht. Schon nach zwei Wochen im Feld hatten wir eine Menge Daten beisammen (siehe BREER, KHAZALEH und STEG 1999).

Ich ging regelmässig auf Hip-Hop-Veranstaltungen, doch nach Wochen ohne Zufallskontakte fragte ich mich: Ist im meinem Fall einfach eine andere Art von Feldforschung angebracht? In den 21 Tagen im Feld, die für eine Feldforschungs-Übung ausreichen sollen (bei mir wurden es 30 verteilt auf ein Jahr, nicht mitgerechnet Treffen zum Autorisieren der Interviews), lassen sich die hehren Ideale nicht verwirklichen - vor allem, wenn man fremd im Milieu ist.

Die Rolle als (harmloser) Idiot

Mein Status als Outsider stellte mich vor praktische und ethische Probleme. Als Outsider hat man von nichts eine Ahnung und stellt sich tolpatschig an - keine gute Grundlage, will man als Gesprächspartner ernst genommen werden. Am schwierigsten war freilich der Anfang. Ich hatte keine Ahnung von Hip-Hop, war gut zehn Jahre älter als sie, führte ein ganz anderes Leben. Ich wusste, wie wichtig Vorwissen ist und wollte mich informieren. Das war sehr schwierig, gibt es doch keine Bücher oder Zeitschriften über Hip-Hop in Basel. Ich wusste nicht, wie ein natürliches Gespräch zu führen, die Kluft war zu gross.

Mit dem Eindruck kehrte ich von einem Gespräch mit Mitgliedern der damals noch existierenden Hip-Hop-Vereinigung Bee4Real zurück. Den Kontakt mit ihnen bekam ich durch DJ El-Q, den ich nach der Hip-Hop-Disco angesprochen hatte. Wie in der Ethnologie üblich, führte ich während der ein "Feld-Tagebuch".


Obwohl mitten in der Stadt, in der ich schon seit fast sieben Jahren lebe, fühlte ich mich ähnlich wie meine Studienkollegen, die zur Feldforschung in Ghana waren. Ich war in einem Milieu, wo ich mich vollkommen fremd vorkam - oder wie Nigel Barley (1986) während seiner Forschung in Kamerun - wie ein "harmloser Idiot".

Die Rolle als Eindringling

Die ethischen Probleme betrafen meine Rolle als Forscher: Inwiefern bin ich berechtigt, als Aussenstehender über Hip-Hop zu forschen? Sollte das nicht jemand aus der Szene tun oder zumindest jemand, der sich auskennt? Diese Frage beschäftigte mich während meiner ganzen Forschung. Seit den 70er- und 80er-Jahren ist sie eine der meist diskutierten im Fach.

Lange Zeit hinterfragten Ethnologen ihre Forschungspraxis nicht - also in einen fernen Winkel der Welt zu den "Wilden" (wie man sie damals bezeichnete) zu reisen, eine Zeit lang bei ihnen zu leben und dann Bücher und Artikel über ihre merkwürdige Sitten und Bräuche zu schreiben, um damit Karriere zu machen - je kurioser, desto besser!). Die Ethnologen hatten damals nichts zu befürchten. Sie schrieben nur für intellektuelle Weisse. Heute können die Nachkommen dieser "Wilden" lesen und schreiben, besuchen selbst die Universität. Sie lesen, was Ethnologen über sie schreiben. Sie nehmen nicht mehr hin, nur von anderen beschrieben zu werden - als exotische "Andere".

Lila Abu-Lughod bemerkt:


Sie möchten das Aussehen des Bildes mitbestimmen, das andere von ihnen bekommen. Sie protestieren, wenn sie merken, dass ein ethnologisches Filmteam aus der Hauptstadt in ihrem Portrait über ein samisches Dorf in Nordfinnland nur alte schäbige Häuser aufnimmt. Plötzlich gerieten Ethnologen unter Druck, und Forschungsethik und -praxis wurden Thema zahlreicher Publikationen (u.a. CRICK 1982, CLIFFORD & MARCUS 1986).

Viele Gesellschaften, die regelmässig Besuch von Ethnologen bekommen haben (Indianer, Samen, Gesellschaften in Papua Neu-Guinea etc) reagieren heute zurückhaltend gegenüber auswärtigen Forschenden. In manchen Regionen, wie in Skandinavien, haben die Nachkommen der "Wilden" ein Forschungsmonopol über ihre eigene Gesellschaft ergattert. In Norwegen ist es fast tabu, als Nicht-Same über Sami zu forschen und man muss, wie ich mitbekam, mit Schwierigkeiten rechnen, versucht man es dennoch. Ihre kritischen Fragen: Kann sich ein Fremder jemals so viel Wissen über die Gesellschaft aneignen wie ein Einheimischer? Kann er sie jemals richtig verstehen? Ist es nicht störend, ständig einen fremden Forscher um sich herum zu haben?

Diese Entwicklung brachte viele Annahmen in der Ethnologie durcheinander. Bisher hatte man es als Stärke, ja, als Voraussetzung ethnologischen Forschens angesehen, von aussen in eine fremde Gesellschaft zu kommen. Entsprechend reagierten die etablierten Ethnologen und fragten genauso kritisch zurück: Kann ein Einheimischer wirklich genauso "objektiv" forschen wie ein Fremder? Nimmt ein Einheimischer nicht vieles einfach hin, ist ihm vieles selbstverständlich, das ein Fremder hinterfragen würde? Wie gross ist die Gefahr, dass es einem Einheimischen um positive Selbstdarstellung nach aussen geht ("mein Dorf", "mein Stamm", "meine Szene")?

Unnötige Bedenken

Beide Arten von Forschungen haben ihre Vor- und Nachteile. Wichtiger: Die Begriffe "einheimisch" und "fremd" sind relativ. Ich war beides: einheimisch (in der Stadt) und fremd (in der Szene). Und das Verhältnis kann sich ändern. Jede Feldforschung verändert den Forscher. Ein Schlüsselerlebnis hatte ich, als ich ein Konzert besuchte mit einer afrikanischen Percussion-Gruppe. Es fand statt im Nellie Nashorn in Lörrach, das Alternative in den 70er-Jahren errichteten. Viele Leute in meinem Alter gehen dahin. Danach besuchte ich einen Hip-Hop-Jam.


Das Wichtigste: Die Hip-Hop-Künstler waren zu meiner Überraschung alle bereit, mitzumachen - obwohl sie merkten, wie wenig ich wusste und ich von der Uni war. Es bedurfte keiner Überredungskunst! Sie erzählten gerne von sich, liessen mich gratis Jams besuchen, schenkten mir eine CD oder Platte, verschafften mir Kontakte.

Meine Erfahrung deckt sich mit der Beschreibung im Lehrbuch:


Wichtiger als diese Frage sind wahrscheinlich der ideologische Background und die Interessen des Forschers. Finn Sivert Nielsen macht einen Vergleich mit der Kunst.

Man denke sich die Szene, vier Maler sitzen auf einem Berggipfel und sollen das Tal und die Berge um sie herum malen. Die vier Gemälde, schreibt er, sind alle gleich "wahr", die Künstler betonen nur unterschiedliche Aspekte in dem, was sie sehen, sie wählen aus, was für sie wichtig ist, seien es Farben, Konturen, Kontraste, Details, Perspektiven. Alle Bilder sind "wahr", aber keines ist "identisch" mit der Landschaft" (NIELSEN 1996:60).

Eines ist sicher: Über "Sie" zu schreiben, wenn man weiss, dass "Sie" die Arbeit lesen ist anspruchsvoller. Hätte ich den Hip-Hop-Künstlerinnen und - Künstlern nicht ein Exemplar dieser Arbeit versprochen, würde sie innerhalb der Mauern der Uni bleiben, ich hätte weniger an manch einer Formulierung gegrübelt.


Themenwahl und Interesse

Jede Forschung hat ein Thema und innerhalb dieses Themas einen Schwerpunkt. "Die Situation der Hip-Hop-Szene in Basel" ist noch zu allgemein. Möglich wäre: "Die Internationalität der Szene: Wie klappt das Miteinander von Schweizern und Ausländern?" oder "Die Stellung der Frauen im Hip-Hop".

Ich habe mein Thema von Anfang an offen gehalten. Ich wollte die Hip-Hop-Künstler selbst bestimmen lassen, darüber zu reden, was sie wollen. Dies ist auch ein Merkmal von Ethnologie. Während Soziologen, Pädagogen oder Psychologen in der Regel mit fertigen Fragen an die Jugendlichen herantreten, gehen viele Ethnologen erst mal ins Feld, um herauszubekommen, was die wichtigen Fragen sind.

Mein Oberthema war die Situation der Jugendlichen in der Stadt Basel. Die Leitfrage war: Wie können sich junge Leute hier verwirklichen? Welche Chancen, welche Hindernisse gibt es? Mein Ziel war, Hip-Hop jenseits oft gehörter Vorurteile zu untersuchen: Was geht in der Szene ab? Was sind da überhaupt für Leute? Stimmt das, was man in der wissenschaftlichen Literatur über sie liest? Welche neuen Gesellschaftsmodelle entwerfen sie: welche Bedeutung haben Nationalität, Schicht und Geschlecht? Was für Themen bewegen sie?

Das Hip-Hop-Milieu hat meist schlechte Schlagzeilen gemacht (Gewalt, illegales Sprühen). Jugendliche werden in Medien als passiv, verantwortungs- und visionslos dargestellt. Hier ist eine Szene, dachte ich mir, in der es vor Kreativität nur so sprudelt, in der Dinge passieren, von denen die wenigsten wissen. Das wollte ich in meiner Arbeit darstellen.


Das Vorgehen

Doch wie komme ich an die Daten? Meine Pläne musste ich immer wieder ändern. Zuerst wollte ich anhand der Geschichte und laufender Aktivitäten einer Hip-Hop-Vereinigung (Bee 4 Real) die Merkmale der Basler Hip-Hop-Szene herausarbeiten. Die Idee dazu lieferte mir die Forschung von Arild Hovland (1995) unter samischen Jugendlichen. Er ging an die Treffen einer Jugendgruppe, besuchte ihre Veranstaltungen, knüpfte Kontakte und konnte so an einem Teil ihres Alltags teilnehmen.

Ich bekam sofort das Einverständnis der Mitglieder, an einer B4R-Sitzung teilzunehmen. Mein Enthusiasmus sollte nicht lange währen. Das Treffen wurde eine Krisensitzung, zwei Monate später war der Verein aufgelöst. Wat nu?

Ich beschloss, zweischienig zu arbeiten: Ich würde weiterhin jede Art von Hip-Hop-Veranstaltungen besuchen. Parallel dazu wollte ich Interviews mit Hip-Hop-Künstlern führen. An dem B4R-Treffen hatte ich Black Tiger kennen gelernt, er war sofort bereit, mir Kontakt zu zentralen Leuten im Hip-Hop-Milieu zu verschaffen. Ihm musste ich das Konzept der ethnologischen Feldarbeit nicht lange erklären, hat er doch selber zwei Jahre Psychologie und drei Jahre Soziologie studiert. Anfangs wollte ich von jeder Sparte einen Künstler nehmen, eine Frau sollte dabei sein.

Mitten in der Feldforschung erzählte ich einer Ex-Breakerin von meiner Auswahl. Sie sagte: "Wenn du das nur für die Uni machst, ist das so okay, wenn es auch für uns machst, dann musst du noch (...) interviewen." Ihre Aussage gab mir zu denken. Die Folge: Aus vier sind elf Interviews geworden. Und immer noch gibt es viele wichtige Leute, die aussen vor bleiben mussten. Ich fand es sinnvoller, Insidern die Auswahl zu überlassen, als auf Geratewohl Leute auf einem Jam anzusprechen.

Was Kontakte anging, war von grosser Bedeutung der Jugendtreffpunkt Gundeli. Dort hatte ich einmal mit Breakdancerin Mickey Laze abgemacht. Sie machte mir deutlich, wie wichtig der Treff für die Basler Hip-Hop-Kultur ist. Die meisten Hip-Hop-Künstler sind dort quasi aufgewachsen. Tatsächlich geben sich hier die Stars die Klinke in die Hand. Dort traf ich auch auf Sozialarbeiter Antonio Gabl, der mir von der unsicheren Zukunft des Treffs erzählte. Ihr Grundstück liege auf einer Zufahrtsstrasse für den neu gestalteten Bahnhof SBB. Daraus entstand ein Artikel für die Basellandschaftliche Zeitung.

Nebenbei besuchte ich ein Hip-Hop-Festival in Zürich (Urban Skillz 1998), die Ausstellung "Walk on the Wild Side" im Kantonsmuseum Liestal über Jugendszenen in der Schweiz von 1930 bis heute, eine Diskussion über Sprayer im Sommercasino, hörte immer mehr Hip-Hop ("Pass auf, dass du nicht auch noch zum Hip-Hopper wirst", sagten meine Mitbewohnerinnen), las viel und surfte im Internet.

Zentral für das Verständnis von Hip-Hop war der Besuch von Jams. Vor allem, wenn man bemerkt, dass das, was man studiert, eigentlich weniger fremd ist als man meint.


Ähnliche Erlebnisse bescherten mir die Interviews. Ich stellte wiederholt fest:


Dass sich die Feldforschung auf einige Tage innerhalb eines für eine Übung ungewöhnlich langen Zeitraum verteilte, war auf der einen Seite positiv.



Zu viel Engagement?

Verändert hat mich die Forschung auf jeden Fall - nicht nur meinen Musikgeschmack. Sie provozierten mich immer wieder zu existenziellen (!) Lebensbetrachtungen:


Das Hinterfragen seines eigenen Lebens ist eine der spannenden Momente, die Feldforscher erleben. Für die Wissenschaftlichkeit der Arbeit, lässt sich einwenden, birgt das eine Gefahr. Das ist vom wissenschaftlichem Standpunkt aus - der Nachteil meines so langen Engagements. Meine Methode erfordert Engagement für andere, ein Eintauchen in ihre Welt. Wichtig ist aber immer eine Distanz, um "die Anderen" möglichst "objektiv" zu betrachten - ein Widerspruch, mit dem viele Forscher nicht klar kommen.

Philipp Bourgois:


Mir wurde beim Schreiben der Arbeit eine Neigung bewusst, die positiven Elemente herauszustellen. Korrekturleser meinten: "Du klingst zu euforisch!".


Die Interviews: Ohne Geduld nix los

Ich habe einen Ansatz gewählt, der das Individuum in den Vordergrund stellt. Die Interviews, die ich hier wörtlich wiedergebe, sollen Einblick in Persönlichkeiten der Szene geben. Dieser persönliche Ansatz schien mir angebracht, da Hip-Hop eine persönliche Ausdruckform ist.

Die Interviews sollen deutlich machen, dass es verschiedene Auffassungen von Hip-Hop gibt. Es gibt nicht die Hip-Hop-Kultur, sondern viele verschiedene Hip-Hop-Künstlerinnen und Künstler, die einen gemeinsamen Nenner haben. Manche Aspekte der Hip-Hop-Kultur bleiben über Jahre hinweg gleich, andere verändern sich ständig, über manche bleibt man sich uneinig. Hip-Hop ist vielfältig. Wir werden der Vielfalt kultureller Erscheinungsformen nicht gerecht, wenn wir in unseren Analysen nur von Gemeinsamkeiten schreiben und die Unterschiede unter den Teppich kehren.

Die Organisation der Interviews war sehr aufwendig. Hip-Hopper sind vielbeschäftigte Menschen, neben dem Sprühen, Mixen, Trainieren und Üben gehen die meisten von ihnen noch Temporär- oder Vollzeit-Jobs nach. An Wochenenden sind sie sonstwo in der Weltgeschichte, manchmal sind sie für längere Zeit fort. Nur selten konnten wir uns Zeit lassen für ein längeres Gespräch (Tiger, Tarek, Kron). Gespräche fanden während der Arbeitszeit statt (ACE), in einer kurzen Tanzpause (Nicole) und hatten klare Zeitlimite (Chéjah u.a.).

Solche äussere Bedingungen beeinflussen das Gespräch, ebenso das Verhältnis zwischen Forscher und Interviewpartner(in), dessen Wichtigkeit Florence Weiss (1991) und Abner P. Cohen (1984) betonen:


So blieb das Interview manchmal ein Interview, manchmal wurde daraus ein Gespräch. Manche Hip-Hopper traf ich nur ein einziges Mal, andere mehrere Male, verteilt über fast zwei Jahre - ein Unterschied!

Eine Sache war das Arrangieren von Interview-Terminen, eine andere war die Verabredung an sich. Ohne Geduld nix los! Als bei der ersten Verabredung niemand kam, dachte ich:


Bei einer Verabredung im Jugi Gundeli bin ich vom Sozialarbeiter gleich begrüsst worden mit den Worten, jaja, die Person komme garantiert erst in ein, zwei Stunden, das sei normal. Wie bei einem Arztbesuch sollte man also Lektüre dabei haben. Dasselbe wiederholte sich von vorne, als ich ihnen die abgetippten Interviews zum Korrektur-Lesen und Autorisieren geben wollte. Auf manche Leute konnte man sich schon verlassen, ein flexibles Verständnis von Zeit war aber unabdingbar!


"Die richtigen Fragen stellen"

Filosof Bertram Russel sagte einmal, die grösste Kunst in der Wissenschaft sei, die richtigen Fragen zu stellen (siehe EMMET 1968). Die Interviews verliefen - wie gesagt - unterschiedlich. Ich hatte mir nach Besuch von mehreren Jams und der Lektüre über Hip-Hop einen Fragebogen erstellt. Ihn benutzte ich als Gerüst und als Hilfe, wenn ein Gespräch ins Stocken geriet. Ich hoffte, dass ich ihn möglichst selten benutzen würde.

Ich hoffte, dass sich aus einem Interview ein Gespräch entwickelte, das der Interviewpartner oder die Interviewpartnerin selbst steuerte, also dass über Themen geredet werden würde, die "die anderen" selber einbrachten. Kalmoo war da besonders aktiv! Ich denke, es ist eine interessante Mischung entstanden.

Aus manchen Interviews hätte ich freilich mehr heraus holen können. Oft stand ich unter Zeitdruck, und dann kann das passieren, was Florence Weiss beschreibt, dass man, geht man später zu Hause das Gespräch durch, bemerkt, dass man sich "weit weniger als üblich engagiert hat und das Gespräch überhaupt seltsam eintönig verlief" (WEISS 1991:24).

Oder ich stellte nicht die angebrachten Fragen mangels Vorwissen. Einer der Interviewten zum Beispiel ist für seine "extremen Meinungen" bekannt. In meinem Interview spürt man nicht viel davon. Jetzt, am Ende der Forschung weiss ich, wie ich mich im Vorfeld über meine Interviewpartner besser hätte informieren können.

Interviews haben eine begrenzte Aussagekraft. Sie vermitteln Gedanken, Einstellungen, Meinungen. Manchmal zweifelte ich, inwieweit man dem Gesagten trauen kann. Die Realität kann anders aussehen. Am besten sieht man das kommende Kapitel an als eine Ansammlung von elf Augenblicksbildern von elf Hip-Hop-Künstlerinnen und Künstlern in Basel. Sie sollen keinen Überblick geben über die Hip-Hop-Szene, sondern einen Einblick - oder besser - elf Einblicke!