"Man sollte nicht über Breakdance reden, sondern es selber tun. Das Gefühl
ist einfach unbeschreiblich" (Nicole Schwarz)
26. März 1998. "Sechs Stutz und mach die Tür hinter Dir zu." Meine
Feldforschung hat begonnen. Mit diesen Worten. "Welch Begrüssung", dachte
ich. Und wie cool sie da an der Kasse im Sommercasino sitzen. Ich musste an
Leute in New York denken. Ja, so übercool sind da die Typen, die
U-Bahn-Tickets verkaufen, auch gewesen. Die Drei bekamen ihre sechs Stutz,
und ich betrat nun zum ersten Mal in meinem Leben eine Hip-Hop-Disco.
Ich hatte nie zuvor bewusst Hip-Hop-Musik gehört, im Radio klar, immer
wieder mal, aber nur als Background. Ein bisschen komisch kam ich mir schon
vor. Ich dachte, ich würde garantiert auffallen, ich mit meinen 28 Jahren -
unter womöglich lauter Teenies? Ja, und überhaupt meine Klamotten...
Ausserdem komme ich allein, ich kenne niemanden, und niemand kennt mich
dort. Jetzt, 20 Monate danach, traue ich es kaum zu schreiben, aber ich hatte
da doch einige der Vorurteile über Hip-Hop verinnerlicht und glaubte, diesen
Abend nicht unter den friedlichsten und bravsten Jugendlichen der Stadt zu
verbringen.
Ich war neugierig, was mich da erwarten würde. Ich hatte im Herbst 1997 ein
Theaterstück gesehen über Hip-Hop, gespielt von Hip-Hoppern, das mir sehr
gefallen hatte (GleisX). Dadurch kam ich auf die Idee, meine Feldforschung
über Hip-Hop zu machen. Die Aktiven in der Hip-Hop-Vereinigung Bee 4 Real
(B4R) wollten mit dem Stück Vorurteile gegenüber Hip-Hop abbauen. Daraus
meinte ich ein Interesse abzuleiten, sich kritisch mit sich selbst
auseinanderzusetzen und sich dem Dialog mit der Öffentlichkeit zu stellen.
Zu
der Zeit besuchte ich ein Seminar über ethnologische Stadtforschung. Wir
kamen zum Schluss, dass es an Studien über Lebensformen junger Leute fehlt.
So why not study hip-hop?
An dieser Veranstaltung wollte ich einen ersten Einblick in die Szene
bekommen. Ich hatte mich zuvor mit meinem zwei Jahre jüngeren Bruder, der
sehr viel Hip-Hop hört (Hard Core), unterhalten. Er meinte, ich solle schauen,
was für Musik kommt, "echter Hip-Hop" oder nur "Hitparadenzeug". Ich soll
darauf achten, wie die Leute gekleidet seien - sind es nur Mode-Hip-Hopper?
Sind es nur Teenis, hat es Ältere unter ihnen? Ich hoffte auch, Kontakte mit
Leuten aus der Szene aufnehmen zu können.
Teilnehmende Beobachtung
Ich setze mich zu den anderen auf die Bühnenkante. Hm, dachte ich, eigentlich
sieht es hier aus wie in einer gewöhnlichen Disco. Ein paar Leute tanzen, ein
Paar eng umschlungen. Die meisten sind so zwischen 16 und knapp über 20,
Frauen sind untervertreten. Vom Aussehen her falle ich gar nicht auf. Wohl die
richtigen Hip-Hopper, die sich hier treffen, denke ich, mein Bruder würde
zufrieden sein. Merkt man auch an der Musik: das ist kein kommerzielles
Gedudel!
Ja, nun bin ich also auf Feldforschung. Wie aufregend!? Hier sitze ich und
schaue. Immer wieder war Feldforschung Thema im Studium, doch erst "im
Feld" wird einem bewusst, was das ist und was die Methode von einem fordert.
Anders als Soziologen und Psychologen begnügen sich Ethnologen nicht damit,
Umfragen zu machen. Ethnologen nehmen am Alltag der Leute teil, die sie
studieren. Studieren? Ein Ethnologe namens Spradley sagte einmal,
Ethnologen würden nicht Leute studieren, sondern von ihnen lernen.
"Teilnehmende Beobachtung" heisst die Methode. Franz Boas und Brunoslaw
Malinowski führten sie in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts
ein. Boas lebte mehrere Jahre zusammen mit den Indianern Nordamerikas,
Malinowski mit den Einheimischen auf der Südseeinsel Trobriand, bevor sie
Bücher über sie veröffentlichten.
Die Methode ist überall anwendbar, ob in der "Dritten Welt" oder zur
Untersuchung des Betriebsklimas eines Unternehmens hierzulande - deswegen
sind heutzutage Ethnologen auch im Consulting-Bereich angestellt. Ihre
Spezialität ist es, sich in andere hinein zu versetzen - "to grasp the native's
point of view", wie es Malinowski (1922) ausdrückte. "Eine gute Feldarbeit ist
davon abhängig", so mein Lehrbuch, "dass wir unser Äusserstes versuchen,
einzutauchen, dass wir uns gefühlsmässig, voll und ganz in die Welt, die wir
studieren, engagieren" (NIELSEN 1996:10).
Über Hip-Hop zu forschen, ohne Hip-Hop-Musik gehört zu haben,
Breakdancern zugeschaut und Graffitis bewundert zu haben, ist also in der
Ethnologie nicht akzeptabel. Idealerweise sollte man Teil der Gesellschaft, der
Szene, werden. Maurice Bloch forderte, man sollte die Arbeit der Leute, über
die man forscht, erlernen (nach NIELSEN 1996:51). In meinem Fall hiesse es,
mich in einer der vier Hip-Hop-Sparten zu versuchen, aktiv zu werden! Erst
dann könne ich lernen, was Hip-Hop ist und für die Leute bedeutet.
Dahinter steckt die Überzeugung, dass viele Informationen nicht oder nur
ungenügend via Sprache vermittelt werden können. Manches muss am eigenen
Leib erlebt werden. Viele Hip-Hopper würden darin zustimmen. Wie
unbefriedigend sind doch die Antworten, fragt man einen Bekannten, wie seine
Bergtour in Marokko war oder was nun das Tolle an der Wu-Tang-Clan-CD
sei! "Man sollte nicht über Breakdance reden, sondern es selber tun. Das
Gefühl ist einfach unbeschreiblich", sagte mir Nicole Schwarz und bringt das
Problem auf den Punkt.
Als Ethnologe sollte man deshalb ständig präsent sein. Mein Lehrbuch:
"Man bekommt seine Information nicht nur in klar definierten
Interviewsituationen, sondern beim gemeinsamen Essen, im Bus,
umgeben von Unbekannten, auf Saufgelagen. Nachts füllt die
Feldarbeit unsere Träume, und Träume können Informationen werden.
Ein drückendes Schweigen, die Art, wie sich jemand bewegt, das
Unausgesprochene, die Gerüche im Hinterhof, das missglückte
Interview. (...) Feldforscher sind Forscher, die sich selbst und andere
zum Glauben verleiten, dass sie keine Forscher sind, weil sie in ihrer
Forschung mit ihrem ganzen Selbst da sind. Sie nehmen die Welt ganz
in sich auf, mit all ihren Sinnen und versuchen sie zu verstehen -
intellektuell, emotionell, intuitiv und moralisch gleichzeitig"
(NIELSEN 1996:16-17).
Keine geringen Ansprüche! Ich sitze hier am Bühnenrand, ziemlich ratlos und
frage mich: Wie soll ich überhaupt an die Hip-Hopper herankommen? Soll ich
jemanden ansprechen und fragen, also ich bin Ethnologe und möchte gerne
wissen....? Wie reagieren die überhaupt da drauf? Wen soll ich überhaupt
ansprechen? Welche Fragen soll ich stellen? Soll ich einfach nur beobachten
und schauen, ob etwas passiert? (Es passierte nichts.)
Ich wurde mir schnell
der Herausforderung bewusst. Ich studiere eine Szene und nicht ein Dorf, eine
Stadt, eine ganze Gesellschaft oder einen Brauch. Und ich bin ein Outsider.
Wie als Outsider eine Szene studieren?
Eine Szene ist weniger leicht fassbar als ein Dorf. Wer überhaupt ein
Hip-Hopper ist, erfährt man nicht aus dem Telefonbuch. In der Stadt erkennt
man sie nicht am Aussehen. Hip-Hopper sind lose organisiert: Wann sich
Breaker zum Tanzen treffen oder Sprüher ihre nächsten Aktionen in der
Bahnhofseinfahrt planen, steht nicht in der Zeitung.
Am deutlichsten bewusst wurde mir der Unterschied im Sommer 1998, als ich
im Rahmen meines MGU (Mensch-Gesellschaft-Umwelt) - Studiums mit
Kollegen auf Feldforschung in einem ukrainischen Bergdorf ging. Das Thema:
Was halten die Einheimischen von Touristen aus dem Westen?
Die
Vorgehensweise war einfach: Hier ist das Dorf, dort in den Häusern wohnen
sie, da laufen die Leute, die uns interessieren. Fremde fallen auf. Man kommt
zwanglos ins Gespräch, beim Spazieren gehen, wenn man sich in eine Beiz
hockt und mit den Einheimischen die Fussball-WM anschaut, wenn man den
Markt besucht oder in die Disco geht. Schon nach zwei Wochen im Feld hatten
wir eine Menge Daten beisammen (siehe BREER, KHAZALEH und STEG
1999).
Ich ging regelmässig auf Hip-Hop-Veranstaltungen, doch nach Wochen ohne
Zufallskontakte fragte ich mich: Ist im meinem Fall einfach eine andere Art
von Feldforschung angebracht? In den 21 Tagen im Feld, die für eine
Feldforschungs-Übung ausreichen sollen (bei mir wurden es 30 verteilt auf ein
Jahr, nicht mitgerechnet Treffen zum Autorisieren der Interviews), lassen sich
die hehren Ideale nicht verwirklichen - vor allem, wenn man fremd im Milieu
ist.
Die Rolle als (harmloser) Idiot
Mein Status als Outsider stellte mich vor praktische und ethische Probleme.
Als Outsider hat man von nichts eine Ahnung und stellt sich tolpatschig an -
keine gute Grundlage, will man als Gesprächspartner ernst genommen werden.
Am schwierigsten war freilich der Anfang. Ich hatte keine Ahnung von
Hip-Hop, war gut zehn Jahre älter als sie, führte ein ganz anderes Leben. Ich
wusste, wie wichtig Vorwissen ist und wollte mich informieren. Das war sehr
schwierig, gibt es doch keine Bücher oder Zeitschriften über Hip-Hop in Basel.
Ich wusste nicht, wie ein natürliches Gespräch zu führen, die Kluft war zu
gross.
Mit dem Eindruck kehrte ich von einem Gespräch mit Mitgliedern der damals
noch existierenden Hip-Hop-Vereinigung Bee4Real zurück. Den Kontakt mit
ihnen bekam ich durch DJ El-Q, den ich nach der Hip-Hop-Disco angesprochen
hatte. Wie in der Ethnologie üblich, führte ich während der ein
"Feld-Tagebuch".
2. April 1998, 23 Uhr. Ich musste daran denken, was ich sooft gelesen
hatte. Auf Feldforschung wird man wieder zum (unwissenden) Kind. Ich
kannte einfach vieles nicht: die Namen von bekannten DJs, Rappern,
Sprühern oder Tänzern. Oder als ich nach Themen, die sie gerade
beschäftigten, fragte, nannten sie einen Begriff, den ich nicht kannte.
"Er weiss es nicht? Na, dann ist es auch gut", sagten sie. Ich solle es
ohnehin nicht aufschreiben, wer weiss was die Leute denken, wenn sie
das lesen.
Ich bin schon ins Fettnäpfchen getappt: Sie erzählten, dass sie
demnächst in Davos auftreten würden, während einer
Snowboard-Meisterschaft. Mich verwunderte das. Ich sagte, Hip-Hop
und Snowboard seien doch zwei ganz verschiedene Szenen. "Wieso",
fragte El-Q, sichtlich überrascht. Ich erwiderte: "Es sind ja mehr die
Reichen in Davos, auch die Snowboarder." "Was hat denn das mit Geld
zu tun", sagte El-Q. "Die Snowboarder machen auch jeden Abend
Parties - wie wir." (...) Sie zeigten mir die Flyer für die Veranstaltung.
Da war ich wieder ein "Kind". Auf dem Flyer war ein grosses Bild. Ich
schaute nicht darauf, drehte gleich um, um nach dem Programm zu
schauen. Dabei ging es ihnen gerade um das Bild! Es war ein Graffiti.
Philipp erklärte, es solle Davos darstellen, die Stadt mit den Bergen. Die
Fledermaus, die darüber fliegt, sei der Basilisk!
9.April 1998: Als wer trete ich da auf? Ich bin kein Hip-Hopper, werde
es nie sein. Von Ethnologen wird erwartet, dass sie so natürlich wie
möglich auftreten und nicht als Forscher. Nur, normalerweise würde ich
nie an eine Hip-Hop-Veranstaltung gehen...
Obwohl mitten in der Stadt, in der ich schon seit fast sieben Jahren lebe, fühlte
ich mich ähnlich wie meine Studienkollegen, die zur Feldforschung in Ghana
waren. Ich war in einem Milieu, wo ich mich vollkommen fremd vorkam - oder
wie Nigel Barley (1986) während seiner Forschung in Kamerun - wie ein
"harmloser Idiot".
Die Rolle als Eindringling
Die ethischen Probleme betrafen meine Rolle als Forscher: Inwiefern bin ich
berechtigt, als Aussenstehender über Hip-Hop zu forschen? Sollte das nicht
jemand aus der Szene tun oder zumindest jemand, der sich auskennt? Diese
Frage beschäftigte mich während meiner ganzen Forschung. Seit den 70er- und
80er-Jahren ist sie eine der meist diskutierten im Fach.
Lange Zeit
hinterfragten Ethnologen ihre Forschungspraxis nicht - also in einen fernen
Winkel der Welt zu den "Wilden" (wie man sie damals bezeichnete) zu reisen,
eine Zeit lang bei ihnen zu leben und dann Bücher und Artikel über ihre
merkwürdige Sitten und Bräuche zu schreiben, um damit Karriere zu machen -
je kurioser, desto besser!). Die Ethnologen hatten damals nichts zu befürchten.
Sie schrieben nur für intellektuelle Weisse. Heute können die Nachkommen
dieser "Wilden" lesen und schreiben, besuchen selbst die Universität. Sie
lesen, was Ethnologen über sie schreiben. Sie nehmen nicht mehr hin, nur von
anderen beschrieben zu werden - als exotische "Andere".
Lila Abu-Lughod
bemerkt:
"Women, blacks, and people of the Non-West have been historically
constituted as others in the major political systems of difference. (...)
Being studied by "white men" (...) turns into being spoken for by them.
It becomes a sign and instrument of power" (ABU-LUGHOD in
STORDAHL 1994:18).
Sie möchten das Aussehen des Bildes mitbestimmen, das andere von ihnen
bekommen. Sie protestieren, wenn sie merken, dass ein ethnologisches
Filmteam aus der Hauptstadt in ihrem Portrait über ein samisches Dorf in
Nordfinnland nur alte schäbige Häuser aufnimmt. Plötzlich gerieten Ethnologen
unter Druck, und Forschungsethik und -praxis wurden Thema zahlreicher
Publikationen (u.a. CRICK 1982, CLIFFORD & MARCUS 1986).
Viele Gesellschaften, die regelmässig Besuch von Ethnologen bekommen
haben (Indianer, Samen, Gesellschaften in Papua Neu-Guinea etc) reagieren
heute zurückhaltend gegenüber auswärtigen Forschenden. In manchen
Regionen, wie in Skandinavien, haben die Nachkommen der "Wilden" ein
Forschungsmonopol über ihre eigene Gesellschaft ergattert. In Norwegen ist
es fast tabu, als Nicht-Same über Sami zu forschen und man muss, wie ich
mitbekam, mit Schwierigkeiten rechnen, versucht man es dennoch. Ihre
kritischen Fragen: Kann sich ein Fremder jemals so viel Wissen über die
Gesellschaft aneignen wie ein Einheimischer? Kann er sie jemals richtig
verstehen? Ist es nicht störend, ständig einen fremden Forscher um sich herum
zu haben?
Diese Entwicklung brachte viele Annahmen in der Ethnologie durcheinander.
Bisher hatte man es als Stärke, ja, als Voraussetzung ethnologischen
Forschens angesehen, von aussen in eine fremde Gesellschaft zu kommen.
Entsprechend reagierten die etablierten Ethnologen und fragten genauso
kritisch zurück: Kann ein Einheimischer wirklich genauso "objektiv" forschen
wie ein Fremder? Nimmt ein Einheimischer nicht vieles einfach hin, ist ihm
vieles selbstverständlich, das ein Fremder hinterfragen würde? Wie gross ist
die Gefahr, dass es einem Einheimischen um positive Selbstdarstellung nach
aussen geht ("mein Dorf", "mein Stamm", "meine Szene")?
Unnötige Bedenken
Beide Arten von Forschungen haben ihre Vor- und Nachteile. Wichtiger: Die
Begriffe "einheimisch" und "fremd" sind relativ. Ich war beides: einheimisch
(in der Stadt) und fremd (in der Szene). Und das Verhältnis kann sich ändern.
Jede Feldforschung verändert den Forscher. Ein Schlüsselerlebnis hatte ich,
als ich ein Konzert besuchte mit einer afrikanischen Percussion-Gruppe. Es
fand statt im Nellie Nashorn in Lörrach, das Alternative in den 70er-Jahren
errichteten. Viele Leute in meinem Alter gehen dahin. Danach besuchte ich
einen Hip-Hop-Jam.
19. September 1998, 04 Uhr. Eben zurück vom Hip-Hop-Jam im
Sommercasino. (...) Ich fühlte mich da wohler als im Nellie Nashorn, wo
die Percussion Mafia spielte. Afrikanische und südamerikanische
Rhythmen, alle Leute sitzen steif auf ihren Stühlen - so spiessig! Das
sind die Alternativen von damals!
Das Wichtigste: Die Hip-Hop-Künstler waren zu meiner Überraschung alle
bereit, mitzumachen - obwohl sie merkten, wie wenig ich wusste und ich von der
Uni war. Es bedurfte keiner Überredungskunst! Sie erzählten gerne von sich,
liessen mich gratis Jams besuchen, schenkten mir eine CD oder Platte,
verschafften mir Kontakte.
Meine Erfahrung deckt sich mit der Beschreibung im Lehrbuch:
"Eine
Feldarbeit ist nie ganz daheim, auch ist sie niemals so ganz fremd dass es nicht
möglich ist, eine gemeinsame Sprache zu finden, man muss nur die Zeit zur
Hilfe nehmen. Eine Feldarbeit kann nur mehr oder weniger "zu Hause" sein; sie
kann nie "zu Hause" sein (NIELSEN 1996:159).
Wichtiger als diese Frage sind
wahrscheinlich der ideologische Background und die Interessen des Forschers.
Finn Sivert Nielsen macht einen Vergleich mit der Kunst.
Man denke sich die
Szene, vier Maler sitzen auf einem Berggipfel und sollen das Tal und die
Berge um sie herum malen. Die vier Gemälde, schreibt er, sind alle gleich
"wahr", die Künstler betonen nur unterschiedliche Aspekte in dem, was sie
sehen, sie wählen aus, was für sie wichtig ist, seien es Farben, Konturen,
Kontraste, Details, Perspektiven. Alle Bilder sind "wahr", aber keines ist
"identisch" mit der Landschaft" (NIELSEN 1996:60).
Eines ist sicher: Über "Sie" zu schreiben, wenn man weiss, dass "Sie" die
Arbeit lesen ist anspruchsvoller. Hätte ich den Hip-Hop-Künstlerinnen und
- Künstlern nicht ein Exemplar dieser Arbeit versprochen, würde sie innerhalb
der Mauern der Uni bleiben, ich hätte weniger an manch einer Formulierung
gegrübelt.
Themenwahl und Interesse
Jede Forschung hat ein Thema und innerhalb dieses Themas einen
Schwerpunkt. "Die Situation der Hip-Hop-Szene in Basel" ist noch zu
allgemein. Möglich wäre: "Die Internationalität der Szene: Wie klappt das
Miteinander von Schweizern und Ausländern?" oder "Die Stellung der Frauen
im Hip-Hop".
Ich habe mein Thema von Anfang an offen gehalten. Ich wollte
die Hip-Hop-Künstler selbst bestimmen lassen, darüber zu reden, was sie
wollen. Dies ist auch ein Merkmal von Ethnologie. Während Soziologen,
Pädagogen oder Psychologen in der Regel mit fertigen Fragen an die
Jugendlichen herantreten, gehen viele Ethnologen erst mal ins Feld, um
herauszubekommen, was die wichtigen Fragen sind.
Mein Oberthema war die Situation der Jugendlichen in der Stadt Basel. Die
Leitfrage war: Wie können sich junge Leute hier verwirklichen? Welche
Chancen, welche Hindernisse gibt es? Mein Ziel war, Hip-Hop jenseits oft
gehörter Vorurteile zu untersuchen: Was geht in der Szene ab? Was sind da
überhaupt für Leute? Stimmt das, was man in der wissenschaftlichen Literatur
über sie liest? Welche neuen Gesellschaftsmodelle entwerfen sie: welche
Bedeutung haben Nationalität, Schicht und Geschlecht? Was für Themen
bewegen sie?
Das Hip-Hop-Milieu hat meist schlechte Schlagzeilen gemacht
(Gewalt, illegales Sprühen). Jugendliche werden in Medien als passiv,
verantwortungs- und visionslos dargestellt. Hier ist eine Szene, dachte ich mir,
in der es vor Kreativität nur so sprudelt, in der Dinge passieren, von denen die
wenigsten wissen. Das wollte ich in meiner Arbeit darstellen.
Das Vorgehen
Doch wie komme ich an die Daten? Meine Pläne musste ich immer wieder
ändern. Zuerst wollte ich anhand der Geschichte und laufender Aktivitäten
einer Hip-Hop-Vereinigung (Bee 4 Real) die Merkmale der Basler
Hip-Hop-Szene herausarbeiten. Die Idee dazu lieferte mir die Forschung von
Arild Hovland (1995) unter samischen Jugendlichen. Er ging an die Treffen
einer Jugendgruppe, besuchte ihre Veranstaltungen, knüpfte Kontakte und
konnte so an einem Teil ihres Alltags teilnehmen.
Ich bekam sofort das
Einverständnis der Mitglieder, an einer B4R-Sitzung teilzunehmen. Mein
Enthusiasmus sollte nicht lange währen. Das Treffen wurde eine Krisensitzung,
zwei Monate später war der Verein aufgelöst. Wat nu?
Ich beschloss, zweischienig zu arbeiten: Ich würde weiterhin jede Art von
Hip-Hop-Veranstaltungen besuchen. Parallel dazu wollte ich Interviews mit
Hip-Hop-Künstlern führen. An dem B4R-Treffen hatte ich Black Tiger kennen
gelernt, er war sofort bereit, mir Kontakt zu zentralen Leuten im
Hip-Hop-Milieu zu verschaffen. Ihm musste ich das Konzept der
ethnologischen Feldarbeit nicht lange erklären, hat er doch selber zwei Jahre
Psychologie und drei Jahre Soziologie studiert. Anfangs wollte ich von jeder
Sparte einen Künstler nehmen, eine Frau sollte dabei sein.
Mitten in der Feldforschung erzählte ich einer Ex-Breakerin von meiner
Auswahl. Sie sagte: "Wenn du das nur für die Uni machst, ist das so okay,
wenn es auch für uns machst, dann musst du noch (...) interviewen." Ihre
Aussage gab mir zu denken. Die Folge: Aus vier sind elf Interviews geworden.
Und immer noch gibt es viele wichtige Leute, die aussen vor bleiben mussten.
Ich fand es sinnvoller, Insidern die Auswahl zu überlassen, als auf Geratewohl
Leute auf einem Jam anzusprechen.
Was Kontakte anging, war von grosser Bedeutung der Jugendtreffpunkt
Gundeli. Dort hatte ich einmal mit Breakdancerin Mickey Laze abgemacht.
Sie machte mir deutlich, wie wichtig der Treff für die Basler Hip-Hop-Kultur
ist. Die meisten Hip-Hop-Künstler sind dort quasi aufgewachsen. Tatsächlich
geben sich hier die Stars die Klinke in die Hand. Dort traf ich auch auf
Sozialarbeiter Antonio Gabl, der mir von der unsicheren Zukunft des Treffs
erzählte. Ihr Grundstück liege auf einer Zufahrtsstrasse für den neu
gestalteten Bahnhof SBB. Daraus entstand ein Artikel für die
Basellandschaftliche Zeitung.
Nebenbei besuchte ich ein Hip-Hop-Festival in Zürich (Urban Skillz 1998), die
Ausstellung "Walk on the Wild Side" im Kantonsmuseum Liestal über
Jugendszenen in der Schweiz von 1930 bis heute, eine Diskussion über Sprayer
im Sommercasino, hörte immer mehr Hip-Hop ("Pass auf, dass du nicht auch
noch zum Hip-Hopper wirst", sagten meine Mitbewohnerinnen), las viel und
surfte im Internet.
Zentral für das Verständnis von Hip-Hop war der Besuch von Jams. Vor allem,
wenn man bemerkt, dass das, was man studiert, eigentlich weniger fremd ist
als man meint.
13.April 1998: Sich der Musik auszusetzen war eine der wichtigsten
Elemente der Feldforschung. Musik kann man nicht erfragen, sondern
muss man selbst erleben! Das ist der Weg zu implizitem Wissen! Die
Musik gefiel mir besser als ich dachte. Mir wurde bewusst, dass es doch
teils die Musik ist, die ich immer höre, wenn ich spät abends dasitze und
für die Uni arbeite - auf "Couleur 3" oder "Energy".
Ähnliche Erlebnisse bescherten mir die Interviews. Ich stellte wiederholt fest:
17. Dezember 1998: Sie (die Hip-Hoper) mögen die dieselben Orte in
Basel wie ich: Kaserne, Sommercasino, Hirschi, Kuppel. Sie mögen auch
nicht die gestylten Discos.
Dass sich die Feldforschung auf einige Tage innerhalb eines für eine Übung
ungewöhnlich langen Zeitraum verteilte, war auf der einen Seite positiv.
19. Oktober 1998: Jetzt ist die Gap zwischen ihnen und mir kleiner
geworden, ich habe einen gemeinsamen Nenner gefunden.
24. Februar 1999: Also, wenn ich frühere Einträge (im Tagebuch) lese -
die Probleme habe ich nicht mehr. Ich sage "Ich mache für die Uni eine
Studie über Hip-Hop in Basel. Hast Du Zeit?" und die Leute sagen zu.
Man muss das ganz cool machen. Als mich Puccio nach dem Hintergrund
der Arbeit fragte, sagte ich "Jeder muss eine Forschung machen, und ich
mache halt Hip-Hop." Das ist doch besser als jede hochgestochene
Erklärung. Habe ich von Hip-Hoppern gelernt?
Zu viel Engagement?
Verändert hat mich die Forschung auf jeden Fall - nicht nur meinen
Musikgeschmack. Sie provozierten mich immer wieder zu existenziellen (!)
Lebensbetrachtungen:
25. Februar 1999: Manchmal denke ich, hier bin ich und hab studiert,
das richtige Leben leben sie. Sie sind so breit gebildet durch Hip-Hop,
durch ihre internationalen Kontakte, ihre Aktivitäten...Wozu taugt meine
Ausbildung???
Das Hinterfragen seines eigenen Lebens ist eine der spannenden Momente,
die Feldforscher erleben. Für die Wissenschaftlichkeit der Arbeit, lässt sich
einwenden, birgt das eine Gefahr. Das ist vom wissenschaftlichem
Standpunkt aus - der Nachteil meines so langen Engagements. Meine
Methode erfordert Engagement für andere, ein Eintauchen in ihre Welt.
Wichtig ist aber immer eine Distanz, um "die Anderen" möglichst "objektiv"
zu betrachten - ein Widerspruch, mit dem viele Forscher nicht klar kommen.
Philipp Bourgois:
"Participant observation requires researchers to be physically present
and personally involved. This encourages them to overlook negative
dynamics because they need to be empathetically engaged with the
people they study. This leads to a unconscious self-censorship (...)"
(BOURGOIS 1995:14).
Mir wurde beim Schreiben der Arbeit eine Neigung bewusst, die positiven
Elemente herauszustellen. Korrekturleser meinten: "Du klingst zu euforisch!".
Die Interviews: Ohne Geduld nix los
Ich habe einen Ansatz gewählt, der das Individuum in den Vordergrund stellt.
Die Interviews, die ich hier wörtlich wiedergebe, sollen Einblick in
Persönlichkeiten der Szene geben. Dieser persönliche Ansatz schien mir
angebracht, da Hip-Hop eine persönliche Ausdruckform ist.
Die Interviews
sollen deutlich machen, dass es verschiedene Auffassungen von Hip-Hop gibt.
Es gibt nicht die Hip-Hop-Kultur, sondern viele verschiedene
Hip-Hop-Künstlerinnen und Künstler, die einen gemeinsamen Nenner haben.
Manche Aspekte der Hip-Hop-Kultur bleiben über Jahre hinweg gleich,
andere verändern sich ständig, über manche bleibt man sich uneinig. Hip-Hop
ist vielfältig. Wir werden der Vielfalt kultureller Erscheinungsformen nicht
gerecht, wenn wir in unseren Analysen nur von Gemeinsamkeiten schreiben
und die Unterschiede unter den Teppich kehren.
Die Organisation der Interviews war sehr aufwendig. Hip-Hopper sind
vielbeschäftigte Menschen, neben dem Sprühen, Mixen, Trainieren und Üben
gehen die meisten von ihnen noch Temporär- oder Vollzeit-Jobs nach. An
Wochenenden sind sie sonstwo in der Weltgeschichte, manchmal sind sie für
längere Zeit fort. Nur selten konnten wir uns Zeit lassen für ein längeres
Gespräch (Tiger, Tarek, Kron). Gespräche fanden während der Arbeitszeit
statt (ACE), in einer kurzen Tanzpause (Nicole) und hatten klare Zeitlimite
(Chéjah u.a.).
Solche äussere Bedingungen beeinflussen das Gespräch, ebenso
das Verhältnis zwischen Forscher und Interviewpartner(in), dessen Wichtigkeit
Florence Weiss (1991) und Abner P. Cohen (1984) betonen:
"The ethnographer's success does not depend upon intellectual mastery,
but upon the competence with which s/he can interact socially with the
members of the field studied, and on the help provided by informants"
(COHEN 1984:228).
So blieb das Interview manchmal ein Interview, manchmal wurde daraus ein
Gespräch. Manche Hip-Hopper traf ich nur ein einziges Mal, andere mehrere
Male, verteilt über fast zwei Jahre - ein Unterschied!
Eine Sache war das
Arrangieren von Interview-Terminen, eine andere war die Verabredung an
sich. Ohne Geduld nix los! Als bei der ersten Verabredung niemand kam,
dachte ich:
16. April 1998: Das waren ja klassische Entschuldigungen. Gut, dass uns
Florence Weiss im Seminar vorgewarnt hat. Die Entschuldigungen sind überall
auf der Welt dieselben: in Afrika, Papua-Neu-Guinea, unter
Ethnologie-Studenten oder Hop-Hoppern. Einer (der Hip-Hopper) war
krank, bei einem anderen ist etwas dazwischen gekommen, von einem
anderen haben sie eh schon lange nichts gehört, und ein anderer wusste
eh von nix.
Bei einer Verabredung im Jugi Gundeli bin ich vom Sozialarbeiter gleich
begrüsst worden mit den Worten, jaja, die Person komme garantiert erst in ein,
zwei Stunden, das sei normal. Wie bei einem Arztbesuch sollte man also
Lektüre dabei haben. Dasselbe wiederholte sich von vorne, als ich ihnen die
abgetippten Interviews zum Korrektur-Lesen und Autorisieren geben wollte.
Auf manche Leute konnte man sich schon verlassen, ein flexibles Verständnis
von Zeit war aber unabdingbar!
"Die richtigen Fragen stellen"
Filosof Bertram Russel sagte einmal, die grösste Kunst in der Wissenschaft
sei, die richtigen Fragen zu stellen (siehe EMMET 1968). Die Interviews
verliefen - wie gesagt - unterschiedlich. Ich hatte mir nach Besuch von
mehreren Jams und der Lektüre über Hip-Hop einen Fragebogen erstellt. Ihn
benutzte ich als Gerüst und als Hilfe, wenn ein Gespräch ins Stocken geriet.
Ich hoffte, dass ich ihn möglichst selten benutzen würde.
Ich hoffte, dass sich
aus einem Interview ein Gespräch entwickelte, das der Interviewpartner oder
die Interviewpartnerin selbst steuerte, also dass über Themen geredet werden
würde, die "die anderen" selber einbrachten. Kalmoo war da besonders aktiv!
Ich denke, es ist eine interessante Mischung entstanden.
Aus manchen Interviews hätte ich freilich mehr heraus holen können. Oft stand
ich unter Zeitdruck, und dann kann das passieren, was Florence Weiss
beschreibt, dass man, geht man später zu Hause das Gespräch durch, bemerkt,
dass man sich "weit weniger als üblich engagiert hat und das Gespräch
überhaupt seltsam eintönig verlief" (WEISS 1991:24).
Oder ich stellte nicht
die angebrachten Fragen mangels Vorwissen. Einer der Interviewten zum
Beispiel ist für seine "extremen Meinungen" bekannt. In meinem Interview
spürt man nicht viel davon. Jetzt, am Ende der Forschung weiss ich, wie ich
mich im Vorfeld über meine Interviewpartner besser hätte informieren können.
Interviews haben eine begrenzte Aussagekraft. Sie vermitteln Gedanken,
Einstellungen, Meinungen. Manchmal zweifelte ich, inwieweit man dem
Gesagten trauen kann. Die Realität kann anders aussehen. Am besten sieht
man das kommende Kapitel an als eine Ansammlung von elf
Augenblicksbildern von elf Hip-Hop-Künstlerinnen und Künstlern in Basel. Sie
sollen keinen Überblick geben über die Hip-Hop-Szene, sondern einen Einblick
- oder besser - elf Einblicke!