Lang ist die Schlange vor dem Eingang. MC Black Tiger, einer der angesehensten Basler
Rapper, feiert im Sommercasino seinen Geburtstag. Gleichzeitig feiert er die
Veröffentlichung seiner ersten CD, "Groovemaischter". Die Besten aus der Basler
Hip-Hop-Szene werden auftreten. Ohne Honorar.
Breakdance
Das Sommercasino ist einer der wenigen Orte in Basel, an denen solche
Veranstaltungen stattfinden. Aus dieser Villa, die vor 177 Jahren zum "geselligen
Zeitvertreib" der Bürgerschaft gegründet worden war, ist ein Kunst- und Kulturzentrum für
junge Leute geworden. Seit der Eröffnung 1962 leitet es die Basler Freizeitaktion (BFA).
Hier gibt es Tanzstudios, Ateliers, Probelokale (inklusive Aufnahmestudio),
Gruppenräume und natürlich die Beiz mit dem Konzertraum.
So voll wie heute ist das Sommercasino wohl schon lange nicht mehr gewesen. Leute
stehen dicht an dicht, fetter Sound kommt aus den Lautsprechern, Leute schreien und
kreischen, alle, die nicht auf die Bühne schauen können, starren auf die Leinwand. So
auch ich. Wir sehen Zuschauer, die einen Kreis um eine Breakdance-Gruppe bilden. Wir
schauen, wir staunen. Welch Körperbeherrschung. Sie wirbeln um ihre Körper als seien
sie eine Kugel. Springen kopfüber auf eine Hand, biegen den Rücken nach hinten und
sehen dann aus wie eine schwebende Banane.
Breakdance ist eine der vier traditionellen Sparten des Hip-Hop. Hip-Hop ist eine
Kombination von Kunstformen, die auf der Strasse entstanden sind. Dazu gehören auch
Rap, Graffiti und DJ-ing (scratchen und mixen etc). Breakdance ist der "Aussenwelt" am
schnellsten zugänglich. Wer etwa lässt sich nicht von dieser Akrobatik begeistern? Für
viele ist der Breakdance der Einstieg in die Hip-Hop-Szene. Viele beginnen sehr jung,
kaum zehn Jahre alt.
Breakdance ist ein Mix aus afro-amerikanischen Tänzen, brasilianischem Capoeira und
asiatischen Kampfsportarten. Mit einer Vorform, dem "Good Foot", hatte der gute alte
James Brown mit seinem Hit "Get on the Good Foot" 1969 für Furore gesorgt. Er war ein
herausragender Tänzer, der bei Auftritten eine grosse Show abzog. Zu der Zeit war es
schon üblich, in den Strassen der South Bronx "Dance Battles" zwischen Gangs
auszutragen. Der Good Foot eignete sich gut dazu.
Grossen Einfluss hatte DJ Kool Herc, der - anders als andere DJs - nur die Breaks
(Stellen mit Trommelparts) spielte, indem er auf zwei Plattenspielern dieselbe Platte
laufen liess und die gewünschten Stellen wiederholte. Die Leute fingen an, "merkwürdige,
akrobatische, verdrehte Tanzbewegungen" dazu zu machen, die man dann Breakdance
nannte (Stancell 1996 in RANCK/Internet).
Breakdance hat sich mit den anderen Hip-Hop-Sparten Ende der 1960er/Mitte der
1970er-Jahre in der Bronx, einem vorwiegend von Schwarzen bewohnten Slumviertel in
New York, entwickelt. Meist wird das Aufkommen der Hip-Hop-Bewegung in
Zusammenhang mit der Benachteiligung der Schwarzen gebracht. Sie verarbeiteten darin
ihre Erfahrungen als eine an den Rand gedrängte Bevölkerungsgruppe. "Hip-Hop, so
US-Rapper KRS-One, "ist die geistige Aktivität unterdrückter Kreativität" (KRS-ONE
1996:1).
In den 70er-Jahren zog die Stadt New York mehrere "Slumbeseitigungs-Projekte" durch
(ROSE 1994:27-34 und 1997:146-148). Ihre einfachen Häuser (von Slum konnte keine
Rede sein!) mussten schicken Geschäftshäusern weichen. Dramatische Folgen hatte der
Bau eines Highways durch die Bronx. 60'000 Häuser wurden abgerissen, über 170 000
Leute umgesiedelt, viele wurden obdachlos. Gleichzeitig beschloss die US-Regierung
Kürzungen im Sozialbudget. Bald war die Bronx in den Schlagzeilen als das Quartier mit
der höchsten Kriminalitätsrate. Aus Platzmangel spielte sich das Leben draussen ab.
Junge Leute tanzten auf ausgebreiteten Kartons zu Sounds aus dem Kassettenrecorder,
sangen und rappten, bemalten triste Wände. Hip-Hop handelt, so DJ Davey D, "von dem
Wunsch, gehört und gesehen zu werden" (www.daveyd.com).
Dem Hip-Hop zum Durchbruch verhalf DJ Africa Bambaata. Er brachte die vier Sparten
unter einen Hut. Bambaata, in den 70er-Jahren schon einer der grossen New Yorker DJs,
war besorgt über die zunehmende Jugendgewalt in der Bronx und fand, die Gangs sollten
sich, anstatt sich gegenseitig die Birne einzuschlagen, lieber im Tanzen, Malen, Rappen
oder DJ-ing messen. Er gründete für die diese Zwecke die Zulu-Organisation und
organisierte regelmässig Wettbewerbe (Battles) - mit Erfolg.
Wettbewerb ist ein zentrales Element im Hip-Hop, gilt es doch, besser sein zu wollen als
der oder die andere. Der Wettbewerb ist ein Ansporn, sich ständig weiter zu entwickeln.
An grösseren Hip-Hop-Events gibt es Breakdance-Wettbewerbe mit Schiedsrichtern und
Punkteskalen. Es geht so seriös zu wie an Kunstturn-Wettbewerben! Durch die Filme
"Wild Style" und "Style Wars" wurde Breakdance in Europa Anfang der 80er-Jahre einem
weiten Publikum bekannt. Es dauerte nicht lange, und man sah fast in jedem Pop-Video
Breakdancer, in "Billie Jean" von Michael Jackson oder in "Dancing in the Streets" (Titel!)
von Mick Jagger und David Bowie. Strasssenkultur wurde nach und nach "in", darunter
auch Skating und Streetball.
Rap
Das Geburtstagskind betritt die Bühne, begleitet von lautem Beifall. "Basel, bisch
guet zwäg?", ruft Black Tiger den Leuten zu. "Basel, this rap is for you." Tiger
sagt, er rappe für seine Mutter, die auch da sei. "Mii Muetter isch schwarz. I bii
Kosmopolitt, fühl mi do wohl, wo's coole Lüt hätt." Er rappt stark und aggressiv,
genauso sind die Beats vom DJ. "Rap" ist ein Slangausdruck für "predigen".
Rapper sind moderne "Prediger" oder Geschichtenerzähler, Grossstadt-Poeten.
Mehr als in Rock und Pop steht der Text im Vordergrund, der rhythmisch und in
Reimform über speziell gemischte Musik gesprochen wird (oft in einem
Affentempo!). In schriftlicher Form ähneln sie dramatischen Gedichten (als ich
während meiner Forschung Henrik Ibsens Peer Gynt vom Ende des 19.
Jahrhunderts las, vernahm ich einen rap-ähnlichen Rhythmus im Text und
begann wie bei einem guten Rap mit dem Kopf zu nicken!).
Die Texte sollen
nach Tigers Vorstellung vom Publikum verstanden werden. Daher rappte er 1991
als Gast-MC der Formation P27 als Erster auf Baseldeutsch. Mehr als in Rock und
Pop wird auf Kommunikation mit dem Publikum Wert gelegt. Das Publikum
rappt mit, liefert Stichworte für "Freestyle-Raps", wo der MC ("Master of
Ceremony") nach wahllos hingeworfenen Wörtern spontan rappen muss. Nicht
immer gibt es einen Sinn (sollte es aber schon!). Wichtiger ist ein guter Reim
und der "Flow" der Sprache. Wenn es auch noch lustig ist - perfekt! Oft springen
MC-Kollegen auf die Bühne, um mitzurappen. Auf der Bühne tummeln sich
immer eine Menge Leute.
Heute ist schon in vielen Sprachen gerappt worden - jeder rappt in seiner
Muttersprache: Griechisch, Italienisch, Französisch. Immer wieder wendet sich
Tiger ans Publikum. Betont, dass Hip-Hop bedeute, allen gegenüber Respekt zu
zollen. Den Leuten beispielsweise, die den Hip-Hop nach Basel brachten wie
zum Beispiel MC Greco. "Ohne sie", so Tiger, "wäre Basel nichts." Und fügt an:
"Manche verwechseln etwas. Sie meinen, wenn sie jemand sind, bräuchten sie
anderen gegenüber keinen Respekt mehr zu zeigen." Tiger: "Des isch
Schiessdrägg!". Stürmischer Beifall.
Respekt und Basel sind an diesem Abend die am häufigsten vorkommenden
Wörter. Viele MCs wenden sich mit Messages an die Jam-Besucher. Tarek
beschwört, alle seien ihren eigenen Glückes Schmied. Ein Rapperkollege hätte
nicht kommen können, da er für seine Abschlussprüfung lernen müsste. "Der
Rap", sagt Tarek, "ist für alle, die in derselben Situation sind. Strengt Euch an,
powert drauf los. Ihr schafft es, wenn Ihr wollt." Tosender Applaus.
Eine der Wurzeln des Rap ist in afro-amerikanischer Geschichte und Kultur zu
finden. Manche Rapper sehen Gemeinsamkeiten zwischen westafrikanischen
Griots und sich selbst, eine Kontinuität von damals bis heute. Griots sind
professionelle Musiker, die in West-Afrika jahrhundertelang als wandernde
Geschichtsbücher und redende Zeitungen wirkten. Andere vergleichen sich mit
den arabischen Geschichtenerzählern in Kaffeehäusern. Rap ist verwandt mit
Soul, Funk, Jazz und Reggae. Vorläufer vom Rap kann man im Scat-Gesang der
30er-Jahre finden, in der Gospelmusik (Gesangspredigt) und im "talking blues".
Charakteristisch ist die Dialogform des Gesangs ("call and response").
Amerikanische Radio-DJs "rappten" schon in den 40er-Jahren - man nannte es
allerdings noch nicht so. Ein unmittelbarer Vorläufer des Raps war das
"Toasting" auf Jamaica. DJ Kool Herc brachte es 1972 von dort nach New York:
Beim Toasting rezitiert man improvisierte Reime über Reggae-Musik.. Zu der Zeit
standen die New Yorker nicht auf Reggae, also begann der DJ auf die
Instrumental-Parts bekannter Hits zu sprechen. Da diese Teile nur kurz waren,
lernte er, sie ins Unendliche zusammen zu mixen. Dazu nahm er zwei Platten
desselben Stücks und ein Mischpult. Aus einfachen Anfeuerungsrufen wie
"Throw your hands in the air" wurden Kurzgeschichten in Reimform, "das
Publikum" machte gleich mit. Später engagierte der DJ einen Kollegen, der sich
speziell um den Kontakt mit dem Publikum kümmerte und auf die Musik sprach
- den MC. Das war der Beginn vom Rappen, wie wir es heute kennen.
Bei den Leuten kam das schnell an. Es war eine Ausdrucksform, zu der nicht
viele Ressourcen nötig waren. Ein Ghetto-Blaster, eine Mix-Kassette, und los
gings! Der erste kommerzielle Rap-Erfolg landete hierzulande 1979 die
Sugarhill-Gang mit "Rappers Delight" (nach BLOKHUS und MOLDE 1996:430-6,
DAVEYD/Internet, RANCK/Internet und GRAF und RICHENER 1997).
DJ
Rapper sind vollkommen abhängig von ihren DJs. Sie liefern den Sound, die
Beats, die Basis für den Rap. Es waren die DJs, die zum grössten Teil die
Rap-Musik schufen und auch zum Entstehen des Breakdances beitrugen. Sie
beschafften Musik für spontane Strassenfeste. Notdürftig zusammen gebastelte
Plattenspieler und Lautsprecher wurden an die Stromquellen der öffentlichen
Strassenbeleuchtung angeschlossen. Die DJs kreierten eine Alternative zu
Discos, die als teuer und versnobbt galten. Sie spielten Musik, die die
Radiostationen nicht spielten, die "too black for the charts" war (so der damalige
Ausdruck der Musikbranche).
Ihrer Bedeutung entsprechend stehen die DJs auch heute mitten auf der Bühne.
Wir alle sehen sie, wie sie mit zwei Ohren zwei Klangquellen verbinden: das
eine Ohr hört am Kopfhörer das Mix-Tape ab, das andere den Sound auf der
Bühne. Manchmal bekommt die erhöhte Bühne mit den DJs den Charakter eines
Altars. Da stehen die DJs, oft mehrere nebeneinander. Sie bestimmen mit ihrer
Musikauswahl, welche Bewegungen die Leute machen. Die Leute tanzen nach
ihrer Nadel ñ jedenfalls wenn sie ihre Stimmung treffen, eine hohe Kunst!
Die DJs haben sich grosse Fertigkeiten erworben, aus verschiedenen Titeln neue
Stücke zu kreieren. Eine Kunst, die Grandmaster Flash (manche Quellen nennen
auch Grand Wizard Theodore) entwickelte, ist das Scratchen. Er spielte ñ ähnlich
wie Kool DJ Herc - dieselbe Platte auf zwei Plattenspielern und isolierte die
Stelle, wo das Schlagzeug dominierte ("the break"). Diese wiederholte er
ständig, indem er die eine Platte abspielte, während er die andere vorwärts und
rückwärts rotieren liess. Diese Technik verleitete manche zu der Behauptung,
Hip-Hop habe die DJs zu Musikern gemacht, die den Plattenspieler als
Percussions-Instrument benutzen.
Hip-Hop trägt dazu bei, dass immer noch Schallplatten produziert werden. Ohne
sie, könnte kein DJ scratchen ñ ein wichtiger Teil der Hip-Hop-Musik
(BURNETT/Internet, Stancell 1966 in RANCK/Internet).
Graffiti
Was wohl die Sprüher machen? Ich gehe hinaus. Schon lange ist es dunkel, doch die
Sprayer arbeiten munter weiter. Sie stehen auf langen Leitern, besprühen im Licht von
Taschenlampen und extra aufgestellten Leuchten die Aussenwand des Sommercasinos.
Jeder hat eine Zuschauerschar um sich versammelt. Wie bei jedem richtigen Jam sind
auch hier alle vier Sparten des Hip-Hop versammelt.
Basel ist für seine Graffiti-Künstler bekannt. Nicht nur schweizweit ñ europaweit! Von
weither kommen Leute, um die "Pieces" (so nennt man die grossen Bilder) an der
Einfahrt zum Bahnhof SBB anzuschauen. So eine lange Aneinanderreihung von
Graffiti-Werken gibt es sonst nirgendwo.
So berühmt, so berüchtigt sind sie in manchen
Kreisen. Manche Leute fühlen sich gestört von "den Schmierereien an den Wänden".
Sprüher haben es besonders schwer, gibt es doch nur wenige legale Flächen, sie
müssen in der Illegalität arbeiten. Ihre Werke sind vergänglich, können schon morgen von
Mitarbeitern der Stadt übermalt worden sein. Deshalb fotografieren die meisten Sprüher
ihr Bild. Auf grösseren Jams gibt es Dia-Shows, wo ein Raum voller Leute sich
mucksmäuschenstill die Bilder anschaut. Mehrere Magazine gibt es, die nur aus
Graffitis, besonders auf Züge gesprühte, bestehen.
Die ersten Graffitis in der heutigen Form tauchten Ende der 60er-Jahre auf. Es fing an mit
Tags. Das sind einfache Namenszüge, die junge Schwarze mit gewöhnlichen Filzstiften
auf die Wände malten. Mitte der 70er-Jahre wurden die Styles immer ausgefeilter.
Wichtig war die Entwicklung besserer Marker und Sprays, die haften blieben und auch
dem Regen trotzten.
Einen Boom löste 1983 ein junger Briefträger namens Taki aus. Auf
seinem Weg durch die Stadt hinterliess er an allen möglichen Stellen einen Tag. Kurze
Zeit später wurde daraus eine Art Sport: Wer schafft es, an den unmöglichsten Orten ein
Graffiti zu sprühen? Die Stadt New York reagierte mit mehreren Millionen Dollar teueren
Anti-Graffiti-Kampagnen. Sie sah die Graffitis an als "Zeichen des Verfalls und des
Verlustes der Kontrolle über die Stadt".
Parallel entstand das Pro-Graffiti-Business:
Firmen erkannten das künstlerische Potential und nutzten es für Logos, Fassaden und
T-Shirts (Burnett/Internet, ROSE 1994:46-47).
Das Publikum
Bald vier Uhr nachts, so langsam gehen die Ersten heimwärts. Die Mischung an Leuten,
die an ein Hip-Hop-Jam kommen, kenne ich nicht von anderen Musikveranstaltungen.
Besonders von ihrer Herkunft her. Herkunft? Sie bezieht sich nur auf ihre Vorfahren. Es
sind ja die meisten Basler.
Da findet man alle Hautfarben von weiss, gelb, braun bis tief
schwarz. Leute mit Vorfahren aus Südostasien, der Karibik, Afrika, Jugoslawien, Spanien
und der Schweiz natürlich, auffallend sind die vielen gemischten Paare. Von der Kleidung
unterscheiden sie sich wenig von einem gewöhnlichen Disco-Publikum. Die Männer sind
in der Regel salopper gekleidet, die Frauen elegant. Anything goes. Die meisten sind so
zwischen 16 und Anfang 20, kaum einer über 30.
Es ist schwierig zu generalisieren. Eins
ist aber sicher. Sie sehen nicht so aus, wie sie sich viele Leute vorstellen oder die
Modeindustrie es gerne hätte!