Israel – Palästina: Zensur auf Deutsch

Übersetzt aus dem Norwegischen. Publiziert in der Zeitschrift Forskerforum 1/2024

Es ist gut, Norwegisch in Deutschland zu können. Wenn man Norwegisch kann, erfährt man Dinge, von denen andere Deutsche nie hören. Man erfährt zum Beispiel, dass nicht nur Israelis, sondern auch Palästinenser Menschen sind, die einen Namen haben und unter dem Krieg leiden.

Protest i Berlin.
“Deutschland, willst du wieder wegschauen?” Von einer Demonstration in Berlin am 4.11.2023, die von palestinischen und jüdischen Gruppen organisiert wurde. Foto: Streets of Berlin, flickr CC BY-SA 2.0 Deed

Auf Norwegisch werden israelische Machthaber von Journalisten zudem kritisch befragt. Journalisten und Forscher dürfen Wörter wie “Okkupation”, “Apartheid” und “Völkermord” im Zusammenhang mit Israel verwenden, und sie diskutieren verschiedene Positionen ohne Angst, gecancelt zu werden. Niemand wird als Hamas-Sympathisant abgestempelt, wenn er Gaza als das größte Freiluftgefängnis der Welt bezeichnet. Und niemand riskiert Konfrontationen mit der Polizei, wenn sie an Demonstrationszügen teilnimmt, ein Palästinensertuch trägt und “Waffenstillstand jetzt!” ruft.

Da meine Norwegischkenntnisse noch einigermaßen intakt sind, löschte ich die deutschen Nachrichten-Apps auf meinem Telefon, kündigte mein Abo bei der taz und begann stattdessen den Morgen mit norwegischen Nachrichten auf nrk.no und morgenbladet.no. Vielleicht werde ich jetzt die Kopfschmerzen los, die mich seit dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober und Israels brutalen Krieg gegen die Palästinenser plagen. Meine Kopfschmerzen, die auch von der Angst herrühren, wohin Deutschland unterwegs ist.

Aufgrund des deutschen Holocaust an den Juden hat das Land natürlich eine besondere Verantwortung für Israel. “Nie wieder” bedeutet laut der offiziellen Staatsdoktrin (“Staatsräson“) bedingungslose Solidarität mit dem Staat Israel und Juden im Allgemeinen. Kritik an der israelischen Politik ist nicht willkommen. Kritik ist sogar tabu. In Deutschland ist Israelkritik ein Ausdruck von Antisemitismus. Darüber herrscht – von rechts bis links – parteiübergreifende Einigkeit. Ich bin schockiert, dass sowohl konservative als auch progressive Medien dieser offiziellen Linie folgen: Deutsche Nachrichten über Israels Krieg gegen die Palästinenser sind deshalb so glaubwürdig wie russische Nachrichten über Russlands Krieg gegen die Ukraine.

Und die Wissenschaft? Forscher, die sich auf Deutsch geäußert haben, waren größtenteils genauso linientreu wie die Journalisten. Selbst Jürgen Habermas, Deutschlands bekanntester Philosoph, war keine Ausnahme. Selbst nach einem Monat Kriegsführung und zehntausend getöteten Palästinensern drückte er seine Unterstützung für Israel aus und bestand darauf, dass Israels Krieg legitim sei. Eine meiner Fachkolleginnen, die Anthropologieprofessorin Susanne Schröter, ging noch weiter. In Interviews und Beiträgen vermischte sie ihre Israel-Unterstützung mit Tiraden über den “Judenhass der Muslime”, Deutschlands “gescheiterter Einwanderungspolitik” und über den “Antisemitismus” in postkolonialen Theorien. Ihrzufolge teilen postkoloniale Studien die Welt ein in böse westliche Täter und gute nicht-westliche Opfer, darunter Muslime. Daher, so Schröter, gebe es eine Allianz zwischen “postkolonial indoktrinierten Akademikern” und Islamisten! Schröter leitet ein großes Forschungszentrum für “Globalen Islam” an der Universität Frankfurt und ist eine der gefragtesten “Islamexperten” in deutschen Medien.

Forscher mit abweichenden Ansichten schweigen oder halten sich bedeckt. Die offizielle Stellungnahme der deutschen Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie ist für deutsche Verhältnisse dagegen äusserst mutig: Sie drücken ihre Solidarität sowohl mit den Israelis als auch mit den Palästinensern aus. Gleichzeitig warnen sie vor dem zunehmenden antimuslimischen Rassismus in Deutschland. Um mehr oppositionelle Stimmen auf Deutsch zu finden, muss man sich zu Nischenwebseiten wie den Online-Magazinen Qantara.de und Geschichte der Gegenwart durchklicken. Dort diskutieren Forscher, darunter auch viele Jüdinnen und Juden, eine neue kosmopolitische Erinnerungspolitik. Sollte “Nie wieder” nicht bedeuten: nie wieder Rassismus, nie wieder Krieg und Völkermord, egal wen es betrifft, nicht nur Juden? Sollte die Solidarität der Deutschen nicht allen Menschen auf der Welt gelten?

Wohin ist Deutschland unterwegs, frage ich mich in diesen dunklen Dezembertagen, wenn pro-palästinensische Stimmen kriminalisiert werden, wenn deine Rechte (Aufenthaltserlaubnis, Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft) jetzt von deiner Meinung zu Israel abhängen können? Wenn man gleichzeitig berücksichtigt, dass die rechtsextreme, rassistische Alternative für Deutschland (AfD) zur zweitgrößten Partei Deutschlands geworden ist? Fast alle Bekannten mit internationaler Familiengeschichte – Muslime oder nicht – haben mir in letzter Zeit Ähnliches gesagt. Dass sie sich in Deutschland nicht mehr willkommen oder zu Hause fühlen. Die Medien haben auch begonnen, über die neue Entfremdung zu schreiben. Aber nicht auf Deutsch.

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