Vorsicht Ironie!
Wieso gilt Norwegen als eines der reichsten Länder der Welt, wenn es sich keine Bibliotheken, Jugendclubs, Schwimmbäder und Postämter leisten kann?
Diese Frage stellen sich immer mehr Norweger. Die Liste an Kürzungen wird immer länger. Es fehlt Geld für PCs an Schulen, für das Heizen von Kirchen und für den Betrieb von Schwimmbädern. Kürzlich kündigte die Hauptstelle der Bibliothek in Oslo die Abos zahlreicher internationaler Zeitschriften. Wenige Tage zuvor beschloss der Stadtrat Oslos, eine weitere Bibliotheksfiliale zu schliessen – ausgerechnet in einem vernachlässigten Stadtteil.
Die Stadtteile der Hauptstadt und viele Gemeinden in Norwegen stehen kurz vor dem finanziellen Ruin: In Søndre Nordstrand, einem Stadtteil mit einem hohen Anteil an Ausländern und Sozialhilfeempfängern, schliessen u.a. zwei Jugendclubs, zwei Kindergärten, eine Nachbarschaftszentrale und ein Kulturkafe für ältere Menschen. Um die leere Kasse aufzubessern, scheute sich der Gemeinderat von Bryne unweit von Stavanger nicht davor, den Jugendclub dichtzumachen, um Platz für ein neues Shoppingcenter zu schaffen.
“Wir müssen sparen”, sagt die verantwortliche Kommunalministerin Erna Solberg, im Volksmund “Eisen-Erna” genannt.
Norwegen – ein armes Land am Rande Europas? Welchen Eindruck vermitteln die Zeitungen? Wir lesen von Journalisten von Bergens Tidene, die von Geschäft zu Geschäft eilen, um herauszufinden, wo man die billigste Zahnpasta kaufen kann. Täglich überbieten sich die Zeitungen mit Überschriften wie “Hier bekommst Du am billigsten Strom” (der Klassiker, alle Zeitungen, zuletzt 30.12.) oder “Das ist Norwegens billigste Tankstellen-Strasse” (Drammens Tidende, 20.12.) oder aus aktuellem Anlass: “Hier kauft Frode Hageseter das billigste Weihnachtsfleisch (pinnekjøtt)” (Rogalandsavis, 12.12); Quasi zur Sicherheit zitiert das Blatt ihn mit den Worten: “Ich habe das billigste Fleisch mehrmals getestet. Es schmeckt gut.” Dieselbe Zeitung begibt sich wie viele andere Blätter wenige Tage später auf die Suche nach den billigsten Weihnachtsbäumen. Norwegens grösste Zeitung, das Boulevardblatt VG, nimmt sich besonders den Armen an. Sie schreibt mit grossen Lettern: “Du kannst den Weihnachtsbaum zum halben Preis bekommen”.
Von Norwegens neuer Armut hat der Rest der Welt noch nicht viel mitbekommen. Deshalb tut Norwegens Regierung was sie kann, um das Bild von Norwegen zurechtzurücken. Letztes Jahr liess sie (zur Abschreckung potenzieller Einwanderer) Horrorfilme über die Zustände in Norwegen im ukrainischen Fernsehen zeigen. Dieses Jahr ist das Fernsehen in Bosnien dran.
MEHR DAZU
Townships threaten new budget cuts
Now that local elections are over in Norway, townships are threatening to cut funding to both schools and care for the elderly (Aftenposten, 7.10.03)
Politicians slug it out over proposed hospital cuts
It all started when the county’s health minister asked hospitals to stop treating so many patients because budgets were under strain (Aftenposten, 30.6.03)
Mit Grusel gegen Asylanten
Norwegen ließ russische und ukrainische TV-Teams abschreckende Filme über das Land drehen (taz, 6.8.2003)
Infos über das Sozialsystem Norwegens
(Michael Klinski, oeko-net.de 2003)
Minifakten Norwegen 2015
(Statistisches Zentralamt Norwegen)
Letzter Link-Check: 24.6.2021